Traditionelle Zahlungsmittel 2.12.2021
Cusanus Universität

Ablauf
Anfangsrunde
Einführung traditionelle Zahlungsmittel
Tabu der Tolai als Beispiel
Analytische Betrachtungen
Pause
Gegebenefalls Gruppenarbeit
Jürg Conzetts Perspektive
Abschluss & Fragen
Einführung in die vielfältige Nutzung traditioneller Zahlungsmittel
Zahlung als Beziehungspflege
Traditionelle Zahlungsmittel dienten nicht dem Tausch, sondern der Beziehungspflege innerhalb der jeweiligen Gemeinschaft. Dort sorgten sie, fest verankert in einen ganz konkreten Zusammenhang, für ein Gefühl der Ausgeglichenheit. Dieses war essentiell, da das Leben nicht über Tausch organisiert wurde, sondern über ein Verhältnis gegenseitigen Überlassens, Mitbedenkens und Teilens. Das Wahren eines wohlwollenden Einvernehmens über notwendigen alltäglichen Gefälligkeiten, sicherte die Gemeinschaft und damit das Überleben der beteiligten Individueen. Wurden diese Gefälligkeiten nicht eingehalten, kam das einem Afront gleich und gefährdete die gesamte Gemeinschaft.
Traditonelle Zahlungsmittel nahmen innerhalb dieser Strukturen eine zentrale Rolle ein und hatten zahlreiche Funktionen inne, von denen einige im Folgenden kurz vorgestellt werden.
Die folgende Aufteilung erfolgt aus heutiger analytischer Sicht und lässt sich nicht auf alle traditionellen Zahlungsmittel anwenden. Vielmehr waren diese so bunt und vielfältig wie die Menschen und deren Beziehungsgeflechte, für die sie stehen.
1. Sühnezahlung
Wurde innerhalb einer Gemeinschaft ein Vergehen begangen, konnten die traditionellen Zahlungsmittel als Wiedergutmachung eingesetzt werden. Im Vordergrund stand auch hier die (Wieder-)herstellung eines Gefühls der Ausgeglichenheit innerhalb der Gemeinschaft. Kam es beispielsweise zu einem Jagdunfall, trafen sich die daran Beteiligten und kamen gemeinsam zu einer Übereinkunft über die Zahlung an beispielsweise Kaurimuscheln, die die Familie des Opfers erhalten solle.
2. Zahlung bei rituellen Begebenheiten
Traditionelle Zahlungsmittel wurden auch für rituelle Gegebenheiten der jeweiligen Gemeinschaft verwendet. Ferner kamen sie bei wichtigen Begebenheiten wie Hochzeiten und Trauerfeiern zum Einsatz. Der Fokus lag dabei stets auf der Symbolisierung des Gemeinschaftlichen und nicht etwa auf einer individuellen Bereicherung durch die verwendeten Zahlungsmittel. So wurde beispielsweise das zum Heiraten benötigte Federgeld im Falle einer weiteren Hochzeit an das nächste Brautpaar weitergereicht. Wie viele Federgeldrollen indess bei einer Hochzeit genau zum Einsatz kamen, war vom Status der Heiratenden innerhalb der Gemeinschaft abhängig.
3. Zahlungsmittel als Tauschmittel am Rande
Am Rande wurden traditionelle Zahlungsmittel auch als Tauschmittel eingesetzt. Gab es innerhalb einer Gemeinschaft etwa ein bestimmtes Kraut nicht, konnten Menschen einer anderen Gemeinschaft aufgesucht und mithilfe von traditionellen Zahlungsmitteln ein Tausch abgeschlossen werden. Das Kraut erhielt durch den Tausch mit beispielsweisen Kakaobohnen jedoch keinen festen Preis. Vielmehr kam es stets zu kontextabhängigen Schätzungen zwischen den Tauschenden, die wiederrum das Ziel hatten, ein Gefühl der Ausgeglichenheit herzustellen und daher ganz unterschiedlich ausfielen.
Die Tabu der Tolai im Fokus
Heute leben noch ca. 100'000 Menschen, die sich als Tolai bezeichnen, auf der Insel New Britain, die heute zu Papua-Neuguinea gehört.

Papua Neuguinea
Papua Neuguinea
Traditionelle Zahlungsmittel stellen hier die aufbereiteten Nassa-Schnecken, Tabu genannt, dar.
Um Tabu herzustellen, müssen zunächst im Meer lebende Nassa-Schnecken gesammelt oder mit Netzen aus dem Meer gezogen werden.

Die Schnecken werden in der Sonne getrocknet, ihre Gehäuse zu etwa fingernagelgroßen Scheibchen geschliffen und schließlich auf Rattan-Streifen gefädelt. Eine von Fingerspitze zu Fingerspitze zwischen zwei ausgebreiteten Armen reichende Kette wird Pokono genannt und besteht aus 300 bis 400 Schnecken. Die Herstellung ist mühsam und zeitintensiv: Man rechnet mit etwa mit zwei bis drei Monaten Arbeitszeit für die Herstellung einer gut zwei Meter langen Muschelkette.

Ein kleiner Zwischenraum soll zwischen den Schneckenscheiben verbleiben, um später das Abbrechen und somit Teilen zu erleichtern
Ein kleiner Zwischenraum soll zwischen den Schneckenscheiben verbleiben, um später das Abbrechen und somit Teilen zu erleichtern
Während kleinere Abschnitte des Geldes für Alltagsgeschäfte genutzt wurden, sparten die Tolai ihre Pokonos, indem sie zwischen 50 und 200 dieser „Fäden“ zu Reifen mit einem Durchmesser von etwa einem Meter banden und mit Blättern umwickelten. Diese Reifen werden als Loloi bezeichnet.
Als Brautgabe mussten der Familie der Frau zwischen 2000 und 3000 Pokonos überreicht werden.

Beispiele für den Umgang mit traditionellen Zahlungsmitteln
Zahlung- und Tausch eines Fischers
Ein Fischer, der einen guten Fang gemacht hatte, überließ seinem Nachbarn ganz selbstverständlich einen Fisch. Als Ausdruck seiner Freude und der Anerkennung der gemeinsamen sozialen Beziehung gab jener Nachbar dem Fischer ein paar Tage später ein paar Bethelnüsse. Diese hatte er mit Tabu erstanden, da sie vor Ort nicht selbst angebaut werden konnten. Die Bethelnüsse fungieren somit als Kastom, dh. als kleine Gefälligkeit und somit als Ausgleich.
Wenn dem Fischer etwas nicht durch einen solchen Kastom zukam, konnte er andere Gemeinschaften aufsuchen und dort mithilfe dertradtionellen Zahlungsmittel einen konkreten Tausch abschließen. Dieser stellte stets eine kontextabhängige Schätzung dar, die das Ziel hatte ein Gefühl der Ausgeglichenheit zwischen den Tauschenden herzustellen.
Ein weiteres Beispiel für eine Zahlung aus West-Sumatra: Betelgeld & Gastfreundschaft
"Wenn wir in anderen Dörfern unterwegs waren und in einem Haus assen und übernachteten, liess man uns nie dafür bezahlen. Ich erkundigte mich schliesslich, wie ich mich erkenntlich zeigen konnte. Man erklärte mir, dass wir für unsere Bewirtung nicht bezahlen dürften, da sie aus Gastfreundschaft erfolge. Aber wir könnten der Frau des Hauses «Geld für Betelnüsse» geben. Betelnüsse sind für die Frauen ein äusserst beliebtes leichtes Rauschmittel, das sie in geselligen Gruppen kauen. Betelnüsse wachsen aber im Hochland nicht, und die Frauen müssen ihre Männer bitten, ihnen Betelnüsse zu kaufen, wenn sie ins Tiefland gehen. Wenn wir den Frauen nun einen Betrag, den wir als angemessene Bezahlung empfanden, mit den Worten gaben, es sei Geld für Betelnüsse, dann nahmen sie das Geld strahlend und ohne Scheu an. Ähnlich wie ursprünglich unser Trinkgeld ist das Betelgeld für den geselligen Konsum bestimmt. Und wie beim Trinkgeld gilt das Betelgeld nicht als Bezahlung des Preises einer Dienstleistung, sondern als Dank und Anerkennung für eine grosszügige Bewirtung." Znoj (1995): Tausch und Geld in Zentralsumatra. Zur Kritik des Schuldbegriffs in der Wirtschaftsethnologie.
Beerdigungen bei den Tolai
Der Tod eines Tolai zieht mehrere Rituale nach sich, je nachdem wie einflussreich die Person gewesen war. Einzelne Tätigkeiten, wie das Ausheben des Grabes oder das Aufführen von Tänzen, werden mit Tabu vergolten. Wichtiger Teil des Beerdigungsrituals ist das Verteilen von Tabu an alle Anwesenden. Zuerst werden sowohl die Reifen mit Tabu der verstorbenen Person als auch die von den Mitgliedern der Gemeinschaft beigetragenen eingesammelt und aufgeschnitten. Anschliessend werden die Tabu von einem Treuhänder verteilt. Jede anwesende Person erhält Tabu entsprechend ihres sozialen Status und ihrer Familien-Zugehörigkeit. Obwohl alle Anwesenden Tabu empfangen, variieren die Summen beträchtlich. Die Distribution von Tabu stellt ein neues Knüpfen des Netzes sozialer Beziehungen dar, das durch den Tod eines Menschen eine Lücke bekommen hat. Auch werden alte Obligationen der Reziprozität erfüllt. So zum Beispiel indem eine Person Tabu für das Beerdigungritual gibt, die zu Lebzeiten von dem Verstorbenen Tabu erhalten hatten.

Betelnüsse
Betelnüsse
Veränderung der Brauchtümer – Tabu heute
Heute ist Tabu neben der offiziellen Landeswährung Kina, zweite offizielle Landeswährung in Papua-Neuguinea. Die beiden Währungen werden zu einem fixen Wechselkurs getauscht. Im Alltag kann fast jedes Gut und jede Dienstleistung für Kina und Tabu gekauft werden. Es findet eine langsame aber stetige Vermischung im Gebrauch von Tabu und Kina statt und in manchen Bereichen konkurrieren die beiden Währungen miteinander. Dadurch verändert sich auch das soziale Gefüge.
Big Shots, - die indigene Elite heutzutage - zeichen sich durch Geldpotenz und eventuell politische Macht aus - und dies im Gegensatz zu den "Big Men", die sich durch traditionelles Wissen und den Einsatz für die Gemeinschaft auszeichneten. Der Tabu-Wohlstand der „Big Shots“ begründet sich durch den Kauf von Tabu und nicht durch das Eingehen alltäglicher, zeitintensiver Austauschbeziehungen. Daher versuchen die Dorfbewohner*innen ein derartiges "Einkaufen" in die Gemeinschaft zu verhindern. Umgekehrt versuchen „Big Shots“ den Einfluss von Kastom zu limitieren und auf das rituelle Leben zu beschränken. Die meisten besitzen ein Unternehmen und sehen dieses durch die tägliche Anfragen von Verwandten und Nachbarn gefährdet. Viele ziehen aus ihrem Dorf fort, um sich den Kastom zu entziehen.
So beschweren sich viele ältere Tolai über den mangelnden Respekt der jüngeren Generation. Heute gibt es z. B. nur noch wenig junge Männer, die bereit sind, von den älteren das traditionelle Fischen zu lernen und sich der Gruppe unterzuordnen. Junge Männer kaufen heute eher Netze im Laden und legen diese alleine aus, anstatt gemeinsam Netze und Fang zu verwalten. Sie entziehen sich auch den Obligationen gegenüber den älteren Männern, indem sie die Brautzahlung für ihre Heirat selber aufbringen und dafür Kina gegen Tabu tauschen. Andere Paare leben unverheiratet zusammen und ziehen Kinder gross, ohne dass jemals eine Brautgabe übergeben wurde. Zwar zieht dies Klatsch im Dorf nach sich, doch immer mehr junge Leute entziehen sich dem herkömmlichen Druck.
In dem Film sieht man die Vermischung der Brauchtümmer und deren Einfluss auf den Versorgungszusammenhang:
Claudio Sieber über den Gebrauch von Tabu bei den Tolai.
Analytische Betrachtungen
Für das Einordnen des Gesagten dienen die analytischen Betrachtungen von Heinzpeter Znoj, der durch seine Feldarbeit in Zentralsumatra einen Begriffsapparat entwickelte, mit dem sich die Austauschvorgänge in archaischen und modernen Wirtschaften gleichermassen analysieren lassen.
Znojs Analysen basieren auf drei Grundpfeilern:
- Znoj benennt zwei unterschiedliche Tauschformen, die er als Transaktionsmodi bezeichnet. Diese beschreiben die Art und Weise wie Gegenstände und Leistungen übertragen werden. Znoj unterscheidet hier in einen liquidierenden und einen nicht-liquidierenden Transaktionsmodus.
- Znoj beobachtet unterschiedliche Interpretationen von Schuld: Schuld als Verpflichtung und Schuld als Belastung
- Nach Znoj bestimmt die Art des Tauschmodus den Rhythmus der sozialen Zeit, verstanden als die Zeit, welche die Mitglieder einer Gemeinschaft oder Gesellschaft miteinander verbringen.
1. Liquidierender Tausch ist die Loslösung des Austausches von der persönlichen Beziehung der Austauschenden. Den Gegenständen wird in Form des Preises ein Wert zugeordnet, unabhängig davon, wer sie gegeneinander tauscht. Aus dem spontanen Austausch selbst erwächst keinem von beiden eine weitere Verpflichtung. Die beiden sind nach der Bezahlung quitt. Solche liquidierenden Transaktionen sind routinemässig nur unter geldwirtschaftlichen Bedingungen möglich.
Nicht-liquidierender Tausch ist möglich, weil die Gegengabe der Gabe je nach Situation immer wieder anders gleichgesetzt wird. Eine Vergeltung ist eine Vergeltung, weil sie die Tauschpartner für eine Vergeltung erklären. Es gibt keinen objektiven Wert. Die Transaktionspartner*innen schätzen gemeinsam ein, was angemessen ist und was nicht.
2. Das Schuldempfinden verändert sich je nach nachdem welcher Tauschmodus überwiegt. Schuld, deren Fortbestehen von allen Transaktionspartner*innen gewünscht wird und die deshalb nicht liquidiert werden soll, wird als Verpflichtung im positiven Sinn empfunden. Schuld, die für mindestens eine Seite belastend ist und die deshalb liquidiert werden soll, bedeutet eine Last. In der Geldwirtschaft überwiegt dieser Schuldtypus in Form von Kredit.
3. Die Soziale Zeit. Die Anteile, welche die beiden Transaktionsmodi (liquidierend und nicht-liquidierend) an konkreten Transaktionsformen haben, bestimmen den Rhythmus des Austausches und das ihnen entsprechende Taktgefühl der Beteiligten. Je grösser der Anteil des nicht-liquidierenden Modus, desto langsamer der Rhythmus der sozialen Zeit und andersherum. Der nicht-liquidierende Modus reproduziert daher die Mitgliedschaft unter den Transaktionspartner*innen, während der liquidierende Modus Abgrenzung zwischen den Transaktionspartner*innen.

Heinzpeter Znoj, Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bern, forscht über Verwandtschafts- und Gender-Anthropologie.
Heinzpeter Znoj, Professor für Sozialanthropologie an der Universität Bern, forscht über Verwandtschafts- und Gender-Anthropologie.
Pause

Gruppenarbeit
Sammeln von persönlichen Erfahrungen
- Welche Beispiele fallen Dir aus deinem Alltag für liquidierende und nicht liquidierende Transaktionsmodi ein?
Beispiel: Mitbringsel
Ein archaischer Rest aus der Gabenkultur ist unser Mitbringsel. Ein Mitbringsel überreichen wir als Gabe, wir tauschen damit nicht gleich gegen gleich. Die Wechselseitigkeit, die berühmte Reziprozität solcher Verpflichtungen, bezieht sich nicht allein auf die mitgebrachten Dinge, sondern umschliesst die ganze Beziehung.
Jürgs Perspektive & Erfahrungen
Fragen & Abschluss
