Andreas Palladio
Der Polarstern unter den Architekten

Andreas Palladio, Die Baumeisterin Pallas, Oder Der in Teutschland entstandene Palladius.
übersetzt von Georg Andreas Böckler. Nürnberg 1698, gedruckt im Verlag Endter
„Den Polarstern unter den Architekten“, so nannte Johann Wolfgang von Goethe den Baumeister Palladio. Auch wenn der Schwerpunkt seines Wirkens im 16. Jahrhundert lag, gewann Palladio seine weltweite Bedeutung erst viel später. Er wurde zum Vorbild für alle, die demokratische Architektur schaffen wollten.
Was haben das Weiße Haus in Washington, das Panthéon in Paris und das Parlamentsgebäude in Wien gemeinsam? Für alle wurde ein Architekturstil gewählt, der sich den Anschein gibt, eine direkte Verbindung zur Antike herzustellen. Allerdings nicht zur wirklichen Antike, sondern zu einer Antike, die ein Architekt der Spätrenaissance schuf: Zur Antike Palladios.
Wie haben uns so an diese Bauten gewöhnt, dass wir uns eine Metropole ohne Kuppeln und Tempelfassaden kaum mehr vorstellen können. Dieser Essay beschäftigt sich mit dem Architekten, der diesen Trend setzte: Andreas Palladio. Das MoneyMuseum konnte kürzlich eine Ausgabe der ersten deutschen Übersetzung seiner zwei Bücher über die Baukunst aus dem Jahr 1698 erwerben. Dieser Beitrag thematisiert die Bedeutung des Werks: Seine Vorgeschichte, das Buch selbst und sein Nachleben.

Das wohl bekannteste Werk Palladios: Il Redentore / Venedig. Foto. Longs Peak, cc-by 3.0.
Das wohl bekannteste Werk Palladios: Il Redentore / Venedig. Foto. Longs Peak, cc-by 3.0.

Doppelseite aus der kommentierten Übersetzung zu Vitruv von Daniele Barbaro aus dem Jahr 1567, illustriert von Palladio.
Doppelseite aus der kommentierten Übersetzung zu Vitruv von Daniele Barbaro aus dem Jahr 1567, illustriert von Palladio.
Palladio: Ein Anfang als einfacher Steinmetz
Er wurde im Jahr 1508 als Sohn eines Müllers geboren, jener Andrea di Pietro della Gondola, den wir heute als Palladio kennen. Sein Taufpate, ein Bildhauer, sorgte dafür, dass sein Patenkind ebenfalls bei einem Bildhauer in die Lehre ging. Bildhauer war ein anderes Wort für einen Steinmetz, für einen Handwerker, der von der Pike auf lernte, wie man Stein behandeln musste, um mit ihm ein steinernes Haus zu errichten. Steinerne Häuser waren damals nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Steinmetze lieferten auch den Bauplan. Sie waren es, die die großen gotischen Kathedralen des Mittelalters konzipiert und erbaut hatten.
Die Renaissance entwickelte eine neue Vorstellung vom Künstler. Hatten sich all die Maler, Musiker und Bildhauer bisher als Handwerker verstanden, die organisiert in einer Werkstatt zusammen mit anderen einen genau definierten Auftrag für einen Auftraggeber ausführten, bewunderten die Humanisten das künstlerische Individuum und seinen schöpferischen Geist. Ein wahrer Künstler war für sie nicht einfach nur ein Maler, ein Bildhauer, ein Musiker. Er war mehr. Er sollte im Idealfall alle Künste beherrschen.
Und da war nun dieser begabte 28jährige Steinmetz-Meister aus Vicenza, der im Jahr 1536 am Bau der Villa Trissino in Cricoli mitarbeitete. Er muss seinem Auftraggeber, Gian Giorgio Trissino, aufgefallen sein. Er begann, ihn systematisch zu fördern.
Trissino unterrichtete seinen Steinmetz in Mathematik und Musik und machte ihn mit den lateinischen Klassikern bekannt. Er schenkte ihm sogar einen neuen Namen: Palladio, abgeleitet von der Göttin des Wissens und seiner Anwendung: Pallas Athena.
Trissino öffnete seine Bibliothek für Palladio. Er machte ihn natürlich vorrangig mit all den Büchern vertraut, die man gelesen haben musste, wenn man sich mit Humanisten über die Baukunst unterhalten wollte. Dazu gehörte in erster Linie das Werk des römischen Autors Vitruv. Poggio Braccionlini hatte eine komplette Abschrift dieses für die Renaissance so entscheidenden Werks im Jahr 1416 in der St. Galler Klosterbibliothek gefunden und nach Italien mitgenommen.
Vitruvs „Zehn Bücher über die Baukunst“ hatten unter den führenden Humanisten großes Aufsehen erregt. Denn das Werk enthielt keine Abbildungen, und das bedeutete, dass alle, die wie die Römer bauen wollten, sich selbst überlegen mussten, was das praktisch bedeutete. Denn viele wollten Gebäude im römischen Stil haben, was schon die Nachfrage nach gedruckten Ausgaben des Manuskripts zeigt. Es erschien erstmals im Jahr 1486 in Rom.
Palladio vereinte zwei Wissensstränge in seiner Person. Er hatte die traditionelle Ausbildung zum Steinmetz durchlaufen und hatte dank Trissino sein Wissen an den theoretischen Überlegungen der Humanisten geschult. Er war Praktiker und Theoretiker - und beherrschte die Kunst der gebildeten Konversation. Darüber hinaus unternahm er Forschungsreisen zu all den bekannten Ruinen römischer Bauten.
Palladio erforschte, zeichnete und vermaß nicht nur die Bauten Roms und die Ruinen Italiens, er fuhr auch ins Ausland. Wer fortan mit ihm über die Bauten der Römer sprechen wollte, erlebte einen weltgewandten und eloquenten Mann, der die schriftlichen und die archäologischen Quellen wohl besser als jeder andere kannte - und der darüber hinaus selbst Erfahrung in den Techniken besaß, die seit den Zeiten der Römer verwendet wurden, um Gebäude zu errichten.
Kein Wunder, dass er nach seiner Rückkehr in die Heimat Vicenza einen Wettbewerb zur Umgestaltung eines zentralen öffentlichen Gebäudes gewann. Das war 1549. Dieser Bau machte ihn mit einem Schlag berühmt.

Die Villa Barbaro in Maser, begonnen um 1557. Foto: Wikipedia.
Die Villa Barbaro in Maser, begonnen um 1557. Foto: Wikipedia.
Bemerkenswert und typisch für die Renaissance ist, dass Palladio sich in seinem Buch zwar als Erbe der Antike positioniert, aber zeigt, dass er in der Lage ist, bessere Bauten als seine antiken Vorgänger zu errichten. Die Renaissance ist eben nicht eine Wiedergeburt der Antike, sondern ein Anwenden antiken Wissens auf moderne Fragestellungen.
So heißen die „Bauernhöfe“ Palladios zwar wie ihre römischen Vorbilder „villa“, das lateinische Wort für das Dorf, die Stadt, das Amtshaus und das Landhaus - speziell in der Spätantike wurde es für die autarke dörfliche Gemeinschaft um das Haupthaus eines Eigentümers und Patrons benutzt -, aber der Architekt machte die römische Villa zu etwas völlig Neuem, zu einem Gebäudetyp, aus dem sich unsere moderne Villa, ein freistehende Einfamilienhaus, entwickelte.
Palladios vier Bücher gewannen eine unglaubliche Internationalität über die Baukunst . Sie wurden nämlich nicht nur zu einem Best-, sondern auch zu einem Longseller - im In- und im Ausland: Es gab in den Jahren 1581, 1601, 1616 und 1642 Neuauflagen in italienischer Sprache. 1625 wurde das erste Buch ins Spanische übersetzt, 1646 alle Bücher ins Niederländische, 1650 ins Französische. Das Buch, das das MoneyMuseum kürzlich erwerben konnte, ist die erste Übersetzung ins Deutsche, die im Jahr 1698 erschien, also weit mehr als ein Jahrhundert nach Palladios Tod.
Das Buch

Frontispiz des Buches: Die Baukunst als Königin aller Künste.
Frontispiz des Buches: Die Baukunst als Königin aller Künste.
Besonders nützlich für den Architekten und seine Handwerker ist nicht der Text, sondern die vielen Illustrationen. Jedes Bauelement ist mit genauen Angaben zu den Proportionen bezeichnet. Palladio gibt sich nicht mit exakten Maßen ab, sondern nennt die Verhältnisse. Wer seine Proportionen für die Einzelteile übernimmt, erhält ein harmonisches Ganzes. So kann jeder Bauherr jedes von Palladio gezeichnete Bauteil in der von ihm gewünschten Größe reproduzieren.
Ob Aufsicht oder Seitenansicht, man merkt es den Skizzen an, wie viel Erfahrung Palladio gehabt haben muss, seinen Mitarbeitern zu erklären, wie sie seine Vorgaben für die architektonischen Details eines Baus umsetzen sollen.

La Rotonda im Schnee. Foto: GDelhey, cc-by 3.0.
La Rotonda im Schnee. Foto: GDelhey, cc-by 3.0.
Schließen wir den Blick auf Palladios Entwürfe in seinem zweiten Buch der Baukunst mit seiner wohl bekanntesten Villa: La Rotonda. Der wunderschön auf einem Hügel gelegene Bau bot seinen Bewohnern einen prachtvollen Rundumblick auf die Landschaft. Er wurde in den Jahren zwischen 1567 und 1571 für einen hohen Geistlichen erbaut und galt als Gipfel der Schönheit. Viele Besucher waren so begeistert, dass sie ihn in ihrer Heimat nachbauen ließen. Wir kennen fünf Imitationen aus Großbritannien und weitere aus Frankreich, Deutschland und Polen. Die berühmteste von ihnen befindet sich in den Vereinigten Staaten von Amerika. Thomas Jefferson, dritter Präsident des jungen Staatswesens in der neuen Welt, entwarf das Herrenhaus von Monticello selbst. Er nutzte dafür den Entwurf der Villa Rotonda von Palladio.

Monticello in Charlottesville / Virginia. Foto: Xiaorui Du, cc-by 4.0.
Monticello in Charlottesville / Virginia. Foto: Xiaorui Du, cc-by 4.0.
Das war übrigens keine Frage des Geschmacks, sondern ein politisches Statement. Zur Zeit Jeffersons war Palladio bereits das angesagte Vorbild all jener, die sich für Freiheit und Gleichheit und die Demokratie begeistern konnten.

Während Säulen in der Antike vor allem im Tempelbau verwendet wurden, führt Palladio die Säule als Architekturbestandteil für alle Arten von Bauten ein.
Während Säulen in der Antike vor allem im Tempelbau verwendet wurden, führt Palladio die Säule als Architekturbestandteil für alle Arten von Bauten ein.

Die komplizierte Kunst des Stiegenhauses.
Die komplizierte Kunst des Stiegenhauses.

Teilbereich des ersten Plans zu einem Stadtpalast.
Teilbereich des ersten Plans zu einem Stadtpalast.

Eingangsbereich des Stadtpalasts.
Eingangsbereich des Stadtpalasts.
Der Pallianismus
Wer in der frühen Neuzeit etwas auf sich hielt, ob Adliger oder reicher Kaufmann, schickte seine Söhne auf die Grand Tour. Die Grand Tour war etwas ganz anderes als unsere moderne Bildungsreise.
Venedig war ein fester Bestandteil jeder Grand Tour. Schon allein, weil sein Unterhaltungsprogramm derart bekannt war, dass kein junger Mann darauf verzichten wollte. Die Bauten Palladios besaßen also das, was wir heute als „beste Lage“ bezeichnen würden. Es kamen an ihnen einfach sehr viele zukünftige Bauherren vorbei.
Einer von ihnen war Thomas Howard, 21. Earl von Arundel. Der kunstbesessene Mann hatte den damals schon ziemlich erfolgreichen Architekten Inigo Jones in seinem Gefolge. Der war von Palladio begeistert und baute nach seiner Rückkehr im Jahr 1614 bis zu seiner Entlassung unter Cromwell im Jahr 1642 unzählige Paläste und Herrenhäuser in dessen Manier. Inigo Jones fand viele Nachahmer, so dass sich in England ein eigener von Palladio angeregter Stil entwickelte, den Kunsthistoriker Palladianismus nennen.
Der Palladianismus war in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts derart beliebt, dass das nach dem Brand von 1666 neu aufgebaute London überall an Palladio erinnerte. So könnte Palladio sogar Christopher Wren zur Kuppel der St. Paul’s Cathedral und ihrem Eingang im Stil eines Tempels inspiriert haben. Wren stand die 1663 erstmals ins Englische übersetzte Fassung von Palladios ersten Buch der Baukunst zur Verfügung. Dass der italienische Architekt auch im beginnenden 18. Jahrhundert seinen Einfluss behielt, sieht man daran, dass das gesamte Werk im Jahr 1715 ins Englische übersetzt wurde - inklusive der Bücher über Stadtplanung und Kirchenbau.

Kapitol in Washington. Foto: Martin Falbisoner, cc-by 3.0.
Kapitol in Washington. Foto: Martin Falbisoner, cc-by 3.0.

Invalidendom in Paris. Foto: KW.
Invalidendom in Paris. Foto: KW.
Symbole der Freiheit
Während die französischen Könige ihre Paläste im üppigen Barock- und Rokokostil errichteten, bevorzugten die Briten einfache Bauten, deren Grundrisse über Palladio direkt aus der Antike zu kommen schienen. Sie basierten auf Symmetrie und klaren Formen, die mit Hilfe der Mathematik leicht zu berechnen waren.

Akademie von Athen, erbaut 1856 von Theophil von Hansen. Foto: A. Savin, cc-by-sa 3.0.
Akademie von Athen, erbaut 1856 von Theophil von Hansen. Foto: A. Savin, cc-by-sa 3.0.
Klarheit, Mathematik - natürlich zog dieser Baustil die Aufmerksamkeit der Aufklärer auf sich. Ihren großen Triumph erlebten die Stilmerkmale Palladios während des Klassizismus, als kein revolutionärer Bau, kein Tempel des Volks ohne schmückende Säulenfassade und eindrucksvolle Kuppel auskam. Palladios Stilmerkmale verselbständigten sich derart, dass niemand mehr an Palladio dachte, wenn er sie sah.
Wenn wir heute die im 19. Jahrhundert drastisch restaurierte Akropolis besuchen, sollten wir nicht vergessen, dass wir keinen rein genuin antiken Gebäudekomplex vor uns haben, sondern einen von Architekten geschaffenen Raum, der gleichzeitig mit den klassizistischen Gebäuden der Stadt entstanden ist. Unsere Vorstellungen von der antiken Baukunst fußen weniger in den jüngsten Erkenntnissen der Archäologie als in den Ideen, die ein einfacher Steinmetz entwickelte, der das Glück hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu bauen und zu publizieren.
Der Formenschatz von Palladio ist aus unseren kollektiven Sehgewohnheiten nicht mehr wegzudenken.
Herunterladen können Sie die komplette deutsche Übersetzung von Palladios Buch über diesen Link. (220mb)