Schweizer Chroniken

Facts oder Fake News?

Wir schauen den Autoren der Chroniken über die Schulter. Dabei lernen wir Männer kennen, die mit ihren Chroniken unser Bild von der Schweizer Geschichte bestimmten. Wir fragen uns, was sie mit ihrer Arbeit beabsichtigten. Welches Weltbild steht dahinter?

Ist die Geschichte der Schweiz, wie wir sie heute erzählen, Fact oder Fake News?

Das MoneyMuseum präsentiert Ihnen einige der prachtvollsten Chroniken, die Schweizer Historiker verfasst und Schweizer Drucker produziert haben.

Station 1: Das Erbe der Antike

Das Handwerkszeug der Schweizer Historiker stammt aus der Antike. Das Wort Chronik stammt aus dem Griechischen: chrónos steht für Zeit.

Auch in der Schweiz wurde die Geschichtsschreibung von den Mönchen und Nonnen in ihren Klöstern gepflegt, wo sich in den mittelalterlichen Bibliotheken antike und neuere Handschriften historischen Inhalts erhalten haben. Die Renaissance brachte diese verborgenen Schätze ans Licht der säkularen Welt und in vielen Ländern der Welt machten sich Chronisten daran, die Geschichte ihrer Stadt oder ihrer Herrscherdynastie nach antikem Vorbild zu gestalten.

In dieser Station präsentieren wir ihnen zwei Bücher von besonders wichtigen antiken Autoren. Von Plutarch lernen wir, wie man mit kurzen Anekdoten einen historischen Sachverhalt illustriert. Das Werk des Tacitus erinnert uns daran, dass kein Geschichtsschreiber neutral ist, sondern seine Werte und Normen übernimmt, sobald er sich daran macht, Fakten zu interpretieren, um sie zu einer Geschichte zu formen.

Plutarch: die Kunst der Anekdote

Plutarch, ΠΑΡΑΛΛΗΛΑ ΕΝ ΒΙΟΙΣ ΕΛΛΗΝΩΝΤΕ ΚΑΙ ΡΩΜΑΙΩΝ (= Griechische und römische Parallelbiographien)) Verlegt bei Andreas Cratander und Johann Bebel in Basel, 1533.

Plutarch, ΠΑΡΑΛΛΗΛΑ ΕΝ ΒΙΟΙΣ ΕΛΛΗΝΩΝΤΕ ΚΑΙ ΡΩΜΑΙΩΝ (= Griechische und römische Parallelbiographien)) Verlegt bei Andreas Cratander und Johann Bebel in Basel, 1533.

Plutarch (45-125) kam aus dem nordgriechischen Chaironeia. Besonders bedeutsam dürften dem kleinen Plutarch die Erzählungen vom römischen Sieg über den griechischen König Mithradates von Pontos geschienen haben. In dieser Schlacht bewiesen die Römer, dass sie den Griechen militärisch überlegen waren.

Für die stolzen Griechen bedeutete das eine Demütigung, gegen die sich Plutarch mit seinen Parallelbiographien wandte. Darin stellte er Gestalten der griechischen und der römischen Geschichte einander gegenüber, um so die Ebenbürtigkeit der beiden Völker zu demonstrieren. Und diese fing er am liebsten in kleinen Anekdoten ein. Er selbst schreibt darüber, dass „ein unbedeutender Vorfall, ein Ausspruch oder ein Scherz mehr über den Charakter eines Menschen“ aussage „als die blutigsten Schlachten...“. Von Plutarch – und seinem Nachahmer Sueton – lernten die Historiker, abstrakte Sachverhalte durch kleine Geschichten zu illustrieren.

Die Edition besorgte Simon Grynaeus (1493-1541), Humanist und reformierter Theologe, der zu den wichtigsten Editoren antiker Autoren gehörte und selbst aktiv nach verlorenen Manuskripten fahndete. Er hatte auch die lateinische Ausgabe des Plutarch betreut, die bereits 1531 erschien.

Die Edition besorgte Simon Grynaeus (1493-1541), Humanist und reformierter Theologe, der zu den wichtigsten Editoren antiker Autoren gehörte und selbst aktiv nach verlorenen Manuskripten fahndete. Er hatte auch die lateinische Ausgabe des Plutarch betreut, die bereits 1531 erschien.

Plutarch war Grieche und schrieb natürlich griechisch. Als Plutarchs Parallelbiographien erstmals um 1400 in die lateinische Sprache übersetzt wurden, rissen sich die Gelehrten darum. So erwarteten die Basler Drucker ein gutes Geschäft, als sie 1533 Plutarch zum ersten Mal außerhalb Italiens in der Originalsprache druckten. Insgesamt gesehen ist dieses Werk die dritte griechische Ausgabe der Parallelbiographien.

Was hat nun Plutarch mit der Schweizer Geschichte zu tun? Wir wollten damit zeigen, woher die Idee kommt, historische Sachverhalte zur Anekdote zu kondensieren. Zu schreiben, dass die Habsburger tyrannische Herren waren, ist eben weniger eindrücklich als zu schildern, wie ein Habsburger Vogt einen Bauern zwingt, das Leben des eigenen Kindes zu gefährden.

Was hat nun Plutarch mit der Schweizer Geschichte zu tun? Wir wollten damit zeigen, woher die Idee kommt, historische Sachverhalte zur Anekdote zu kondensieren. Zu schreiben, dass die Habsburger tyrannische Herren waren, ist eben weniger eindrücklich als zu schildern, wie ein Habsburger Vogt einen Bauern zwingt, das Leben des eigenen Kindes zu gefährden.

Tacitus: Sine Ira et Studio

Publius Cornelius Tacitus (ca. 58-120) stammte aus einer reichen Familie. Tacitus erlebte einen politischen Umbruch: Im Jahr 96 wurde sein erster Gönner, der Kaiser Domitian, ermordet. Ihn ersetzte erst Nerva, dann Traian. Tacitus teilte damit das Problem vieler Senatoren, die unter Domitian aufgestiegen waren, nun aber die neuen Kaiser Nerva und Traian überzeugen mussten, dass sie dem ermordeten Domitian nur widerstrebend Gefolgschaft geleistet hatten, und die neuen Herrscher loyal und treu unterstützen würden.

Wenn Tacitus also in seinen Annalen schreibt, er wolle „sine ira et studio“ (ohne Zorn und Engagement) vorgehen, dann entspricht das keinesfalls unserer Auffassung von Objektivität. Tacitus lebte unter einem Alleinherrscher. Sein Gedeihen hing davon ab, ob das, was er schrieb, dem Kaiser genehm war oder nicht.

Tacitus löste das Problem, indem er Traian als den besten aller Kaiser feierte, während er Domitian zu einem Tyrannen stilisierte. Seine Wertschätzung der anderen Kaiser hing davon ab, in wie weit der Betreffende dem Senat Achtung zollte.

Tacitus verfälschte keine Fakten, aber er interpretierte sie auf seine Weise, und das so gekonnt, dass sein Geschichtsbild noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft dominierte.

C. Cornelius Tacitus, Opera qvae exstant, a Ivsto Lipsio postremvm recensita eivsqve avctis emendatisqve commentariis illvstrata. Verlegt in Antwerpen bei Balthasar II. Moretus in der Officina Plantiniana, 1648.

C. Cornelius Tacitus, Opera qvae exstant, a Ivsto Lipsio postremvm recensita eivsqve avctis emendatisqve commentariis illvstrata. Verlegt in Antwerpen bei Balthasar II. Moretus in der Officina Plantiniana, 1648.

C. Cornelius Tacitus, Opera quae exstant, a Iusto Lipsio postremum recensita, 1648

Beitrag auf Bookophile

Plutarch, Parallelbiographien von Griechen und Römern, 1533

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Station 2: Die Erfindung des Befreiungsmythos

Unsere erste Station führt uns nach Bern. Bern war im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert eine europäische Großmacht. Die Berner Oberschicht verfügte über die finanziellen und militärischen Ressourcen, um auf Kosten der umliegenden Adligen das eigene Gebiet enorm zu vergrößern. Ihren Kanonen und hervorragend ausgestatteten Söldnern hatten die angegriffenen Landesherren, die zeitgleich eine Periode der Schwäche durchlebten, nichts entgegenzusetzen. Um diese Expansion auf Kosten der Habsburger, Kyburger und vieler anderer zu bemänteln, strickte man in Bern von Staats wegen am Mythos einer Befreiung vom adligen Joch.

1420 erteilte der Rat von Bern seinem ehemaligen Schreiber Konrad Justinger (1370-1438) den Auftrag, eine Berner Geschichte zusammenzustellen. Justinger verfasste eine Chronik, die bis zu seiner Gegenwart reichte, und wurde damit zur Grundlage für viele weitere Chronisten, darunter auch Benedikt Tschachtlan, dessen Chronik von 1470 wir an dieser Station in einem Faksimile sehen. Es handelt sich um die erste Bilderchronik der Schweiz. Unter diesem Begriff fasst man heute eine Reihe von handgeschriebenen Texten mit aufwändigen Illustrationen zusammen. Die berühmteste Bilderchronik ist die des Diebold Schilling, die um 1480 entstand. Wie viele Jahrhunderte lang sie als grundlegendes Werk der Schweizer Geschichte genutzt wurde, zeigt uns das zweite Buch dieser Station. Es handelt sich um einen Nachdruck dieser Chronik aus dem Jahr 1743, also rund 250 Jahre nachdem sie verfasst wurde.

Benedikt Tschachtlan: Die erste Bilderchronik

Benedikt Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, ChronikManuskript, 1470. Faksimile.

Benedikt Tschachtlan und Heinrich Dittlinger, ChronikManuskript, 1470. Faksimile.

Ritter im Dienst des Grafen von Kyburg greifen Berner Burger an.

Ritter im Dienst des Grafen von Kyburg greifen Berner Burger an.

Die Expansion Berns erfolgte vor allem auf Kosten der Kyburger und der Habsburger. Um sie zu rechtfertigen, berief man sich gerne auf vorausgehende kriegerische Aktionen der Adligen. Hier sehen wir Ritter des Grafen von Kyburg, die zwei Berner Bürger töten.

Schlacht von Morgarten

Schlacht von Morgarten

Um die „Erzfeindschaft“ mit den Habsburgern zu zeigen, wurde ein Überfall auf die Marschkolonne eines Habsburger Heeres zur glorreichen Feldschlacht, die wir heute als die Schlacht von Morgarten von 1315 kennen.

Das Geniale an der Tschachtlan-Chronik war: sie hatte Bilder, und das in einer Zeit, in der Bilder lediglich in Kirchen und hochherrschaftlichen Häusern anzutreffen waren. Mit ihren bunten Illustrationen lud sie dazu ein, im überschaubaren Kreis die Chronik immer und immer wieder zu studieren. Dabei vergegenwärtigte sich die Berner Oberschicht gemeinsam den Ablauf der Ereignisse und stimmte so ihr Geschichtsbild aufeinander ab. Die Inhalte selbst waren größtenteils bekannt. Die Tschachtlan-Chronik enthält eine Abschrift der alten Chronik von Justinger sowie eine im Berner Sinne redigierte Fassung der Chronik des Alten Zürichkriegs von Johannes Fründ. Lediglich die Darstellung der Zeitgeschichte war neu.

Zwischen 1400 und 1474 wuchs das Berner Territorium fast um das Doppelte. Karte: Marco Zanoli, cc-by 4.0.

Zwischen 1400 und 1474 wuchs das Berner Territorium fast um das Doppelte. Karte: Marco Zanoli, cc-by 4.0.

Bern befand sich in einer Phase der Expansion, als Benedikt Tschachtlan um 1420 geboren wurde. Seine Familie gehörte zur Oberschicht, und so machte er ebenfalls Karriere. Bereits im Alter von etwa 30 Jahren war Tschachtlan Mitglied im Großen Rat und übernahm städtische Ämter. So zog er 1469 als Fahnenträger in den Waldshuterkrieg, den die acht Orte der Eidgenossenschaft gegen den lokalen Adel unter Führung des Habsburger Herzogs Siegmund von Österreich-Tirol führten. Bern sicherte sich bei Kriegsende eine beeindruckende Kriegsentschädigung sowie einträgliche Territorien.

Die erfolgreiche Bärenjagd des Herzog Berthold V. von Zähringen, der Bern seinen Namen verdankt. Tschachtlan war, wie auf der ersten Seite zu lesen, nicht allein: Der fromme Benedikt Tschachtlan, Fahnenträger und Rat zu Bern, ließ die Chronik im Jahr 1470 schreiben und malen. Heinrich Dittlinger war der Schreiber des Buchs.Natürlich bedeutete das nicht, dass die beiden Adligen diese Arbeit selbst ausführten. Wir gehen heute davon aus, dass sie die Texte zusammenstellten, die Schreiber bezahlten und überwachten, sowie den von ihnen finanzierten Illuminatoren genau vorgaben, was wo wie dargestellt werden sollte.

Die erfolgreiche Bärenjagd des Herzog Berthold V. von Zähringen, der Bern seinen Namen verdankt. Tschachtlan war, wie auf der ersten Seite zu lesen, nicht allein: Der fromme Benedikt Tschachtlan, Fahnenträger und Rat zu Bern, ließ die Chronik im Jahr 1470 schreiben und malen. Heinrich Dittlinger war der Schreiber des Buchs.Natürlich bedeutete das nicht, dass die beiden Adligen diese Arbeit selbst ausführten. Wir gehen heute davon aus, dass sie die Texte zusammenstellten, die Schreiber bezahlten und überwachten, sowie den von ihnen finanzierten Illuminatoren genau vorgaben, was wo wie dargestellt werden sollte.

Schlachtszene. Die Berner Oberschicht war stolz auf ihre militärische Schlagkraft. Von den 230 Abbildungen der Tschachtlan-Chronik stellen 200 Abbildungen kriegerische Handlungen dar.

Schlachtszene. Die Berner Oberschicht war stolz auf ihre militärische Schlagkraft. Von den 230 Abbildungen der Tschachtlan-Chronik stellen 200 Abbildungen kriegerische Handlungen dar.

Beschießung einer Stadt mit einer Kanone. Bern verfügte über modernste Waffentechnik. Dazu gehörten um 1470 die ersten Kanonen. Sie waren noch nicht auf Lafetten mit Laufrädern montiert, sondern wurden von frisch gezimmerten Holzgerüsten aus abgeschossen.

Beschießung einer Stadt mit einer Kanone. Bern verfügte über modernste Waffentechnik. Dazu gehörten um 1470 die ersten Kanonen. Sie waren noch nicht auf Lafetten mit Laufrädern montiert, sondern wurden von frisch gezimmerten Holzgerüsten aus abgeschossen.

Diebold Schillling: Bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut

Diebold Schilling schildert in seiner Chronik die große Frömmigkeit der Berner, die vor der Schlacht von Grandson Gott um den Sieg anflehen, der – so die Berner Interpretation – nicht anders kann, als ihrer gerechten Sache den Sieg zu verleihen.

Die Schlacht von Nancy am 5. Januar 1477. Bereits bevor die endgültigen Schlachten geschlagen waren, beauftragte der Berner Rat am 31. Januar 1474 den Schreiber Diebold Schilling, eine neue Chronik zusammenzustellen, um darin die Taten der Berner ins rechte Licht zu rücken. Der Rat zensierte Schillings Entwurf. Die Chronik enthält also die offizielle und zeitgenössische Version der Berner Sicht aufdie Burgunderkriege, was nicht das gleiche ist wie die historische Wahrheit.

Die Schlacht von Nancy am 5. Januar 1477. Bereits bevor die endgültigen Schlachten geschlagen waren, beauftragte der Berner Rat am 31. Januar 1474 den Schreiber Diebold Schilling, eine neue Chronik zusammenzustellen, um darin die Taten der Berner ins rechte Licht zu rücken. Der Rat zensierte Schillings Entwurf. Die Chronik enthält also die offizielle und zeitgenössische Version der Berner Sicht aufdie Burgunderkriege, was nicht das gleiche ist wie die historische Wahrheit.

Diebold Schilling. Beschreibung der Burgundischen Kriege. Verlegt in Bern bei Franz Samuel Fetscherin, 1743.

Diebold Schilling. Beschreibung der Burgundischen Kriege. Verlegt in Bern bei Franz Samuel Fetscherin, 1743.

Welche hohe Bedeutung noch heute dem Sieg über die Burgunder beigemes- sen wird, zeigt die Tatsache deutlich, dass Teile der Burgunderbeute heute noch stolz in Museen und Zeughäusern präsentiert werden. Wappenrock des burgundischen Herolds aus der Burgunderbeute im Zeughaus von Solothurn. Foto: KW.

Welche hohe Bedeutung noch heute dem Sieg über die Burgunder beigemes- sen wird, zeigt die Tatsache deutlich, dass Teile der Burgunderbeute heute noch stolz in Museen und Zeughäusern präsentiert werden. Wappenrock des burgundischen Herolds aus der Burgunderbeute im Zeughaus von Solothurn. Foto: KW.

Station 3: Erzfeind der Schweizer Freiheit: Die Habsburger

Als eigentlicher Gewinner der Burgunderkriege ging Maximilian I. von Habsburg hervor. Er heiratete wenige Monate nach dem Tod Karls des Kühnen seine Erbtochter Maria von Burgund. Sie brachte ihm als Mitgift den größten Teil des Burgunderreichs. Denkt man noch daran, dass sich auch das Vorarlberg und Teile der heutigen Kantone Graubünden und Engadin unter Habsburger Kontrolle befanden, wird klar, dass sich die Eidgenossen in einer Umklammerung befanden.

Zudem bekleideten die Habsburger mittlerweile in dritter Generation das Amt eines Königs resp. Kaisers des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Damit bot dieser traditionelle Rückhalt der kleineren Reichsstände gegenüber den machtvollen Landesherren keine juristische Unterstützung mehr. Dies hatte zur Folge, dass sich die eidgenössischen Orte langsam aus der Reichspolitik zurückzogen, um sich 1648 im Westfälischen Frieden ihre Unabhängigkeit verbriefen zu lassen.

Die eidgenössische Polemik hatte sich bis Ende des 15. Jahrhunderts auf zahlreiche Adelsgeschlechter verteilt. Nun konzentrierte sie sich auf die Habsburger. Maßgeblich daran beteiligt war die Chronik des Petermann Etterlin. Es handelt sich um die erste Chronik der gesamten Eidgenossenschaft, die 1507 gedruckt wurde. Wir widmen ihr die dritte Station.

Petermann Etterlin: Eine Chronik für die gesamte Eidgenossenschaft

Auf diesem Hintergrund müssen wir die Chronik von Petermann Etterlin verstehen. Er versuchte, die gebildete Elite der Eidgenossenschaft mit seiner Chronik davon zu überzeugen, dass es besser sei, auf Seiten des französischen Königs in den Krieg zu ziehen, als auf Seiten der Habsburger, die durch ihre geographische Nachbarschaft gleichzeitig bedrohlich wirkten. Noch war der Schwabenkrieg von 1499 in frischer Erinnerung, bei dem die Eidgenossen bei Dornach das kaiserliche Heer besiegt hatten.

Petermann Etterlins Chronik gewann ihre große Bedeutung durch die Tatsache, dass sie – anders als das Weiße Buch von Sarnen, das unter anderem den Wilhelm-Tell-Mythos erstmals erzählt – in gedruckter Form vorliegt. 1507 wurde Etterlins Chronik bei Michael Furter in Basel publiziert.

Rütli-Schwur. Petermann Etterlin schilderte die Geschichte der Eidgenossenschaft als eine fortschreitende Befreiung aus der Unterdrückung der tyrannischen Habsburger. Dafür griff er auf lokale und fremde Erzählmotive zurück, die seit dem 15. Jahrhundert in der Schweiz kursierten. Zu diesen Sagen gehört der Rütlischwur, den ein Künstler gekonnt ins Bild setzte.

Rütli-Schwur. Petermann Etterlin schilderte die Geschichte der Eidgenossenschaft als eine fortschreitende Befreiung aus der Unterdrückung der tyrannischen Habsburger. Dafür griff er auf lokale und fremde Erzählmotive zurück, die seit dem 15. Jahrhundert in der Schweiz kursierten. Zu diesen Sagen gehört der Rütlischwur, den ein Künstler gekonnt ins Bild setzte.

Aus dem Weißen Buch von Sarnen stammt die Geschichte des wackeren Wilhelm Tell, der seinem Kind auf Befehl des grausamen Vogts der Habsburger einen Apfel vom Kopf schießt.

Aus dem Weißen Buch von Sarnen stammt die Geschichte des wackeren Wilhelm Tell, der seinem Kind auf Befehl des grausamen Vogts der Habsburger einen Apfel vom Kopf schießt.

Etterlin versuchte, die gebildete Elite der Eidgenossenschaft mit seiner Chronik davon zu überzeugen, dass es besser sei, auf Seiten des französischen Königs in den Krieg zu ziehen, als auf Seiten der Habs- burger, die durch ihre geographische Nachbarschaft gleichzeitig bedrohlich wirkten.

Petermann Etterlin: Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft Ir har kom[m]en und sust seltzam strittenn und geschichten)) Verlegt bei Michael Furter in Basel, 1507.

Petermann Etterlin: Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft Ir har kom[m]en und sust seltzam strittenn und geschichten)) Verlegt bei Michael Furter in Basel, 1507.

Die Eidgenossenschaft umklammert von Habsburger Gebiet: Die geographisch-politische Situation 1499 vor dem Schwabenkrieg bzw. wie er in Deutschland heißt, dem Schweizerkrieg. Karte: Marco Zanoli, cc-by 4.0.

Die Eidgenossenschaft umklammert von Habsburger Gebiet: Die geographisch-politische Situation 1499 vor dem Schwabenkrieg bzw. wie er in Deutschland heißt, dem Schweizerkrieg. Karte: Marco Zanoli, cc-by 4.0.

Petermann Etterlin: Das Weiterleben des Freiheitsmythos bis in die Neuzeit

Petermann Etterlin, Kronica von der loblichen Eidgnoschaft, bearbeitet von Johann Jakob Spreng. Verlegt in Basel bei Daniel Eckenstein, 1752.

Petermann Etterlin, Kronica von der loblichen Eidgnoschaft, bearbeitet von Johann Jakob Spreng. Verlegt in Basel bei Daniel Eckenstein, 1752.

Das Werk von Petermann Etterlin gehört zu den zentralen Quellen, aus denen der aufkeimende Nationalismus des 18. Jahrhunderts seine Überlieferung bezog.

Das war ein zweischneidiges Schwert. Einige unkonventionelle Intellektuelle, die an den neuen Lehrstühlen für Schweizer Geschichte ausgebildet worden waren, hinterfragten diese Mythen und erregten so das Missfallen der national gesinnten Bürgerschaft. Dafür steht die Auseinandersetzung um Wilhelm Tell, dem der Schweizer Theologe Uriel Freudenberger 1760 anonym eine Abhandlung widmete. Unter dem Titel „Der Wilhelm Tell. Ein dänisches Mährgen“ veröffentlichte er eine Broschüre, in der er den Tellmythos als Topos entlarvte, der auch in anderen Kulturkreisen bekannt sei. Freudenbergers Schrift wurde auf Betreiben national gesinnter Politiker verboten und in der Innerschweiz sogar vom Scharfrichter verbrannt.

Auf diesem intellektuellen Hintergrund muss man die Neuausgabe von Etterlins Chronik durch Jakob Spreng im Jahr 1752 verstehen.

Station 4 – Glaubensfragen

Man lässt heute die Schweizer Reformation gerne mit dem Jahr 1522 beginnen, als im Haus des Druckers Christoph Froschauer das berühmte Wurstessen stattfand. Der reformatorische Prozess endete damit, dass eine Reihe von Ständen wie Zürich, Bern, Basel, Genf und Schaffhausen den reformierten Glauben als Staatsreligion einführten, während sich andere Orte der Eidgenossenschaft weiterhin zum katholischen Glauben bekannten.

Diese Glaubensspaltung auf engstem Raume löste unter Theologen aller Konfessionen eine erhitzte Diskussion über die Interpretation der gemeinsamen Vergangenheit aus.

Die Reformierten verbuchten einen entscheidenden Vorteil für sich: Sie beherrschten die urbanen Zentren mit ihren Universitäten und Druckereien und verfügten so über wesentlich bessere Verbreitungsmöglichkeiten ihres Geschichtsbilds.

Wir illustrieren dies anhand von vier Chroniken. Im Zentrum steht die wohl berühmteste Zürcher Chronik, publiziert 1548 von Johannes Stumpf in der Druckerei von Christoph Froschauer. Sie erlebte zahlreiche Neuauflagen. Ähnlich erging es mit dem Werk von Josias Simler, der 1572 sozusagen eine Kurzfassung von Stumpf verfasste.

Das Werk von Aegidius Tschudi, der immerhin als Vater der modernen Schweizer Geschichtsschreibung gilt, blieb dagegen bis zum Jahr 1734 ungedruckt. Er war katholisch. Genauso wie der Verfasser der letzten Bilderchronik der Schweiz. Werner Schodeler hinterliess eine zeitgenössische Schilderung der Reformation. Sie ist bis heute nicht ediert.

Aegidius Tschudi: Der Vater der Schweizer Geschichte

Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, Zweyter Teil Von Anno MCCCCXV (= 1415) bis A. MCCCCLXX (= 1470). Verlegt bei Hans Jakob Bischoff in Basel, 1736.

Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, Zweyter Teil Von Anno MCCCCXV (= 1415) bis A. MCCCCLXX (= 1470). Verlegt bei Hans Jakob Bischoff in Basel, 1736.

Aegidius Tschudi (1505-1572)

Aegidius Tschudi (1505-1572)

Aegidius Tschudi war ein Zeitgenosse der Reformation. Er stammte aus einer der ältesten und einflussreichsten Familien des Glarus. Tschudi erhielt seinen ersten Unterricht von Huldrych Zwingli, damals Pfarrer in Glarus. Mit elf Jahren ging Tschudi zum Studium erst nach Basel, dann nach Paris, damals Heimat der berühmtesten theologischen Fakultät Europas.

1529 finden wir ihn wieder im Glarus. Er bekleidete hohe Ämter und setzte dabei auf das friedliche Miteinander beider Konfessionen. Dafür nutzte er seine Leidenschaft, die Geschichte. Sein Werk sollte reformierten und katholischen Schweizern ihre Wurzeln vor Augen führen und so eine Identifikation mit einer gemeinsamen Geschichte ermöglichen. Dafür führte er die Schweizer auf die Helvetier zurück, die prominent im Werk Caesars genannt sind. Die Zeit der Reformation sparte er in seiner Geschichte programmatisch aus.

Tschudi kopierte Inschriften, sammelte Münzen und nutzte die alten Schriftsteller genauso wie die eidgenössischen Archive. Damit leistete er Pionierarbeit.

Tschudis Forschungen hatten weitreichenden Einfluss auf die Ergebnisse anderer Historiker. Er versorgte alle, die eine Schweizer Geschichte schrieben, großzügig mit Informationen. Besonderer Nutznießer war Johannes Stumpf, der Tschudis Forschungen nutzte, um Stimmung gegen die Katholiken zu machen.

Als Sekretär der Tagsatzung in Baden erlebte Tschudi an vorderster Front das aggressive Verhalten der reformierten Orte, die ihrerseits die altgläubigen Orte zu zwingen versuchten, die reformierte Predigt einzuführen. Auch Tschudi radikalisierte sich und so trägt der „Tschudi-Handel“, eine militärische Aktion, die eine Rekatholisierung der Schweiz durch die Innerschweizer Orte zum Zweck hatte, seinen Namen. Der Plan scheiterte und Tschudi ging nach Rapperswil ins Exil. Seine 1571 fertiggestellte Schweizer Geschichte wurde nicht gedruckt, d.h. erst 1736 publiziert.

Verantwortlich dafür zeichnete Johann Rudolf Iselin (1705-1779), ein Schweizer Jurist, der sich als Historiker und Publizist betätigte.

Johannes von Müller (1752-1809)

Johannes von Müller (1752-1809)

Johannes Müller war der bedeutendste Schweizer Historiker des 18. Jahrhunderts. Sein Ruhm beruht zum großen Teil darauf, dass er Tschudis Werk rezipierte. Er sagt über ihn: „So weit dieser [Tschudi] geht, ist Licht und Klarheit, vor ihm und nach ihm Finsternis und Dunkel.“

Über das Werk des Johannes Müller kam Friedrich Schiller erstmals mit der Tell-Legende in Kontakt. Goethe lieferte ihm dazu den Originaltext von Aegidius Tschudi.

Johannes Stumpf: Der reformierte Blick

Johannes Stumpf, Gemeiner Löblicher Eidgenossenschaft Städte, Länder und Völker Chronik, würdiger Taten Beschreibung. Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer, 1586.

Johannes Stumpf, Gemeiner Löblicher Eidgenossenschaft Städte, Länder und Völker Chronik, würdiger Taten Beschreibung. Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer, 1586.

Der reformierte Theologe Johannes Stumpf schrieb die bis heute bekannteste Chronik der Schweiz. Sie verdankt ihren Ruhm nicht ausschließlich seinem Text, sondern auch der exquisiten Bebilderung. Ihr Verleger Christoph Froschauer holte dafür einen der besten Buchillustratoren seiner Zeit: Heinrich Vogtherr den Älteren (1490-1556), selbst ein Drucker und Anhänger des reformierten Glaubens.

Diese rund 400 Holzschnitte illustrieren die erste Schweizer Chronik aus reformierter Sicht.

Johannes Stumpf (1500-1577)

Johannes Stumpf (1500-1577)

Ihr Autor, Johannes Stumpf, war mit Haut und Haar ein Anhänger Zwinglis und eigentlich gar kein Historiker. Der studierte Theologe kam in den 1520er Jahren nach Zürich, wo er 1529 die Tochter von Heinrich Brennwald heiratete. Auch Brennwald gehörte zu den zentralen Gestalten der Zürcher Reformation. Er hatte eine vierbändige Schweizer Chronik verfasst, auf die sich Stumpf für seine Publikation stützte.

Mit seiner Arbeit wollte Stumpf das gescheiterte Vorgehen Zwinglis verteidigen, der mit militärischer Gewalt versucht hatte, die Reformation in der gesamten Schweiz durchzusetzen und so die Eidgenossenschaft religiös zu einen. Den Erzfeind sah er in den katholischen Habsburgern, die zeitgleich im Reich versuchten, die Reformation zurückzudrängen. Dieser Streit gipfelte 1547 – kurz vor der Erstpublikation von Stumpfs Chronik – in der Schlacht von Mühlberg, in der die Truppen Kaiser Karls V. die protestantischen Reichsstände unterwarfen.

Der deutsche Kaiser Karl V. war über die Stumpfsche Chronik und ihre Sicht auf die Habsburger so verärgert, dass er das Buch im Reich verbot und einen Haftbefehl gegen Autor und Verleger erliess. Sein Verbot blieb ohne Wirkung. Die Chronik wurde ein Erfolg. Ihrer Erstausgabe von 1548 folgte 1586 eine zweite. 1606 erschien eine dritte Auflage, von der das MoneyMuseum ebenfalls ein Exemplar besitzt.

Karte des Bodensees und des Gebietes von Zürich

Karte des Bodensees und des Gebietes von Zürich

Berühmt wurde Stumpf vor allem wegen seiner Karten. Sie waren so gesucht, dass sie 1552 in einem eigenen Kartenwerk zusammengefasst und nachgedruckt wurden.

Werner Schodeler: Vergraben in den Archiven

Werner Schodoler, Eidgenössische Chronik. Manuskript, 1510-1535. Faksimile

Werner Schodoler, Eidgenössische Chronik. Manuskript, 1510-1535. Faksimile

Darstellung Bremgartens aus der Schodeler Chronik

Darstellung Bremgartens aus der Schodeler Chronik

Das gedruckte Buch löste das handgeschriebene Manuskript nicht von einem Tag auf den anderen ab. Im Gegenteil. Bis in das 18. Jahrhundert schrieben all diejenigen, die sich ein gedrucktes Buch nicht leisten konnten, das daraus ab, was sie interessierte. Und selbstverständlich blieben viele Bücher – wie die Schweizer Geschichte des Aegidius Tschudi – nur im Manuskript und vielen Abschriften erhalten. Dieses Schicksal teilte die letzte handillustrierte Schweizer Bilderchronik, die der Bremgartner Bürger Werner Schodeler auf eigene Kosten zwischen 1510 und 1535 anfertigte und aufwändig illustrieren ließ.

Titelblatt des dritten Bands der Schodeler Chronik

Titelblatt des dritten Bands der Schodeler Chronik

Werner Schodeler war ein hervorragend informierter Zeitzeuge der Reformation. Er wurde 1490 geboren. Kurz nach 1500 trat er seine Lehre in der Berner Kanzlei an, wo der immer zu Scherzen aufgelegte Junge – so überliefern es uns Eintragungen in den Berner Archiven – zum Schreiber ausgebildet wurde. 1509 übernahm er den Posten des Bremgartner Stadtschreibers. In dieser Funktion machte er die Mailänder Kriege mit.

Sein zwischen 1510 und 1535 niedergeschriebene Chronik liegt bis heute nur als Faksimile vor. Es wurde bis heute nicht transkribiert und ediert.

Der erste Band, der wahrscheinlich zuletzt entstand, enthält eine redigierte Version der Tschachtlan-Chronik. Er wird heute in der Leopold-Sophien-Bibliothek von Überlingen aufbewahrt.

Schodeler Chronik 2. Band: Rückzug der Zürcher Truppen nach der Niederlage von Pfäffikon im Alten Zürichkrieg

Schodeler Chronik 2. Band: Rückzug der Zürcher Truppen nach der Niederlage von Pfäffikon im Alten Zürichkrieg

Der zweite, üppig illustrierte Band, heute im Stadtarchiv von Bremgarten, deckt die Jahre zwischen 1436 und 1466 ab. Er beruht hauptsächlich auf der Chronik des Luzerners Hans Fründ, dessen Darstellung heute als sachlich und kritisch beschrieben wird.

Schodeler Chronik 3. Band: Eidgenössische Truppen treiben ihre Beute weg

Schodeler Chronik 3. Band: Eidgenössische Truppen treiben ihre Beute weg

Der dritte Band, der in der Aargauer Kantonsbibliothek liegt, beschäftigt sich mit dem Zeitraum zwischen 1468 und 1525, umfasst also die Zeit der Reformation. Sein größter Teil ist von Werner Schodeler selbst verfasst.

Josias Simler: Schweizer Basics

Josias Simler, Regiment Gemeiner loblicher Eydgnoschafft. Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer dem Jüngeren, 1577.

Josias Simler, Regiment Gemeiner loblicher Eydgnoschafft. Verlegt in Zürich bei Christoph Froschauer dem Jüngeren, 1577.

Josias Simler gehört der Generation nach Tschudi, Stumpf und Schodeler an, also einer Generation, in der die Reformation zur Normalität geworden war und in der – vorläufig – Frieden zwischen reformierten und katholischen Ständen herrschte, zumindest im Heiligen Römischen Reich, zu dem sich die Schweiz noch zählte. Simlers Vater war Geistlicher und auch er selbst studierte Theologie, finanziell unterstützt vom Züricher Staat auf die Vermittlung seines Paten, des Zürcher Antistes Heinrich Bullinger. 1552 wurde Josias Simler Professor für die Exegese des Neuen Testaments am Zürcher Carolinum.

Ein Kompendium der Schweizer Verfassung(en)

Ein Kompendium der Schweizer Verfassung(en)

Josias Simler gab die von ihm gesammelten Informationen kurz vor seinem Tode in einem leicht benutzbaren Kompendium heraus. 1576 erschien das Buch, das vom MoneyMuseum an dieser Station in seiner deutschen Erstausgabe von 1577 gezeigt wird. Der Titel würde ins moderne Deutsch übersetzt heißen: „Zwei Bücher über das Staatswesen der Schweizer“.

Simlers Werk ist mehr als eine Chronik. Nur sein erster Teil ist der Schweizer Geschichte gewidmet. Für ihn exzerpierte er das Werk von Stumpf und lieferte seinen Lesern so eine Kurzfassung, die wesentlich weitere Verbreitung fand als das längere Original.

Neu war der zweite Teil. Darin fasste Simler sein Wissen über den „Staat“ der Eidgenossen zusammen, also welcher Rechtsstatus in welchem Schweizer Gebiet galt. Für Simler war die Schweiz nur auf emotionaler Basis ein „Staat“, die verschiedenen Orte, die ihre Politik in der Tagsatzung abstimmten, waren rechtlich unabhängig.

Ausführungen zum Bremgartner Kelleramt

Ausführungen zum Bremgartner Kelleramt

Wie komplex die Rechtsverhältnisse noch im 15. Jahrhundert waren, sieht man an Simlers Darstellung zum Rechtsstatus des Kelleramts, eines Gebiets zwischen Affoltern, Bremgarten und der Reuss. Es gehörte ursprünglich zu Zürich, wurde an Bremgarten verpfändet, das die niedere Gerichtsbarkeit besaß, während das Appellationsgericht und die Blutgerichtsbarkeit in Zürich ausgeübt wurde.

Simler, De re publica Helvetiorum libri duo von 1734

Simler, De re publica Helvetiorum libri duo von 1734

Simlers Werk gehört zu den erfolgreichsten Chroniken der Schweiz. Nach der Erstausgabe in Latein wurde bereits im folgenden Jahr eine französische und die deutsche Ausgabe publiziert.

Station 5: Die Illusion einer neutralen Geschichtswissenschaft

Die Reformation mit ihrer neuen, textbasierten Form der Argumentation hatte die katholische Geistlichkeit überrascht. Vor allem die Jesuiten begannen, den Studenten eine mindestens genauso gute Ausbildung zu geben, wie sie ihre reformierten Kollegen in Tübingen, Wittenberg, Straßburg oder Basel erhielten. Es entstand die so genannte Kontroverstheologie, in der sich Angehörige beider Konfessionen damit beschäftigten, die Werke der jeweils anderen Glaubensrichtung systematisch auf Irrtümer abzuklopfen und zu widerlegen. Dafür wurde auch das Instrumentarium der Historiker weiterentwickelt. Wir sprechen heute von Quellenkritik.

Unsere moderne Geschichtsforschung ist stolz darauf, keine Aussage ungeprüft zu übernehmen. Wir stellen Ihnen in dieser Station zwei Historiker vor, die sich auf diesen Weg begaben: Michael Stettler publizierte 1626 im Auftrag des Berner Rats eine neue Chronik. Sein Werk setzte Jakob Lauffer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts fort, wobei wir Ihnen nicht Lauffers Bände zeigen, sondern die Untersuchungen, die Johann Jakob Bodmer unter Lauffers Namen publizierte.

Michael Stettler: Unparteiisch?

Michael Stettler, Gründliche Beschreibung der denkwürdigsten Geschichten und Thaten, welche in den Helvetischen Landen ... bis auf das 1627. Jahr ... sich zugetragen .... Verlegt bei Jacob Stuber in Bern, 1626.

Michael Stettler, Gründliche Beschreibung der denkwürdigsten Geschichten und Thaten, welche in den Helvetischen Landen ... bis auf das 1627. Jahr ... sich zugetragen .... Verlegt bei Jacob Stuber in Bern, 1626.

Es war ein Spagat, eine offizielle, von Staats wegen finanzierte Chronik auf Quellen basiert zu schreiben, und man darf durchaus kritisch sein, ob dies Michael Stettler gelang. Er gehörte selbst zur Berner Oberschicht und machte im Staatsdienst eine bescheidene Karriere. Als Schreiber des Ehegerichts, das über das moralische Verhalten der Berner urteilte, besaß er Zugang zu einem Teil der städtischen Archive. Bereits in jungen Jahren verfasste Stettler ein „kurzes poetisches Gedicht einer hochlöblichen Eidgenossenschaft“ und eine Tragikomödie über den „Ursprung der löblichen Eidgenossenschaft“ in 33 Akten.

Michael Stettler (1580-1642) mit seiner Berner Chronik

Michael Stettler (1580-1642) mit seiner Berner Chronik

1614 gab der Berner Rat seiner Bitte Gehör, ihm alle – auch die geheimen – Archive zu öffnen, damit er eine Fortsetzung der Berner Chronik schreiben könne. 1623 überreichte Stettler sein Manuskript zu den Geschehnissen der Jahre 1526 bis 1610 dem Rat in zehn Bänden. Ehe das Werk in Druck gehen durfte, wurde es von den Ratsmitgliedern zensiert.

Seine Chronik dreht sich nicht mehr um einen von Gott verhängten Weltenplan, sondern um Ursache und Wirkung, um eine logische Abfolge von Ereignissen, bei der eine politische oder militärische Maßnahme ein genau umrissenes Ergebnis zeitigt. Für seine Rekonstruktion der Ereignisse konsultierte Michael Stettler die Primärquellen wie Urkunden, Akten und Verträge.

Michael Stettler schreibt auf dem Titelblatt, er habe nicht nur die zuverlässigsten Autoren kopiert, sondern auch die wichtigsten Archive konsultiert. Wichtig ist ihm dabei, die Unparteilichkeit zu versichern, mit der er alles zum Lob der verehrten Vorfahren zusammentrug. Unparteilichkeit und Lob ist für ihn kein Gegensatz.

Jakob Lauffer: Mehr Anmerkungen als Text

Johann Jakob Bodmer im Namen von Johann Jakob Lauffer, Beyträge zu der Historie der Eidsgenossen. Verlegt in Zürich bei Conrad Orell und Company, 1739.

Johann Jakob Bodmer im Namen von Johann Jakob Lauffer, Beyträge zu der Historie der Eidsgenossen. Verlegt in Zürich bei Conrad Orell und Company, 1739.

Johann Jakob Lauffer (1688-1734) gilt als der letzte staatlich unterstützte Chronist von Bern. Er stammte aus Zofingen, studierte an der Berner Akademie und in Halle Theologie. Nach seiner Rückkehr nach Bern übertrug man ihm 1718 die Professur für Eloquenz und Geschichte. 1724 übernahm er mit großem Widerstreben den Auftrag, eine Bernische Geschichte zu schreiben. Er selbst sagt darüber: „Es ist auch sehr gefährlich, in einer Republik eine Geschichte zu schreiben. Ein wahrheitsliebender Mann kann nicht vermeiden, mehrere Familien zu verletzen und sie sich zu verfeinden.“

Tatsächlich musste Johann Jakob Lauffer diese Gefahr nicht auf sich nehmen. Seine Geschichte wurde erst nach seinem plötzlichen Tod zwischen 1736 und 1739 in Zürich publiziert, selbstverständlich erst nachdem der Berner Rat das Geschichtswerk begutachtet und zensiert hatte.

Johann Jakob Bodmer (1698-1783)

Johann Jakob Bodmer (1698–1783)

Johann Jakob Bodmer (1698–1783)

Verantwortlich für die Publikation zeichnete Johann Jakob Bodmer, Zentrum des intellektuellen Zürich im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er hatte 1734 zusammen mit seinem Neffen Konrad Orell die Verlagsbuchhandlung Orell & Compagnie gegründet, die heute in Orell Füssli weiterlebt. Eines ihrer ersten Prestigeobjekte war die Herausgabe der achtzehnbändigen Chronik Lauffers, der Bodmer vier eigene Bände folgen ließ.

Bodmer verband mit ihrer Publikation sein eigenes Anliegen. Er kämpfte für ein Schweizer Nationalgefühl, das durch eine gemeinsame Geschichte gefördert werden sollte. Deshalb bekleidete der studierte Theologe und gelernte Seidenhändler seit 1731 den Lehrstuhl für Helvetische Geschichte am Zürcher Carolinum. Bodmer war ein Aufklärer. Auch wenn er die nationalen Mythen nutzte, um das Schweizerische Nationalgefühl zu fördern, durften die Inhalte nicht dem Verstand widersprechen. Seine Bücher richteten sich an die intellektuelle Oberschicht, nicht an eine breite Masse. Deshalb bewegten sich seine Abhandlungen auf dem neuesten Stand des damaligen Wissens. Bodmer zitierte seine Quellen und kommentierte sie kritisch.

Station 6 – Zwingli: der nette Reformator?

Und wie sieht das heute aus? Haben wir heute ein korrekteres Geschichtsbild, nachdem unsere Historiker mehrere Jahrhunderte Erfahrung mit der Quellenkritik haben? Oder ist unser Geschichtsbild von anderen, zeitgenössischen Faktoren beeinflusst?

Wir machen die Probe aufs Exempel: Wir vergleichen den historischen Zwingli mit dem Zwingli von Stefan Haupts Film aus dem Jahr 2019.

Huldrych Zwingli: Ein unerbittlicher Krieger Gottes

Huldrych Zwingli, Operum. Verlegt bei Christoph Froschauer in Zürich, 1581.

Huldrych Zwingli, Operum. Verlegt bei Christoph Froschauer in Zürich, 1581.

Zwingli stammte aus einer wohlhabenden Familie. Sein Onkel war ein hoher Amtsträger der Kirche. 1506 trat Zwingli seine erste Pfarrstelle in Glarus an. Er zog mit den Glarner Reisläufern in die italienischen Kriege und bezog jährlich 50 Gulden von päpstlicher Seite, um seinen Einfluss auf die führenden Politiker zu nutzen, um die Belange der Kirche in militärischen Dingen zu vertreten. Nach der Niederlage von Marignano kam die Wende. Zwingli musste Glarus verlassen und wechselte an den Wallfahrtsort Einsiedeln. Dort kam er mit den übelsten Auswüchsen des katholischen Volksglaubens in Kontakt. Zwingli radikalisierte sich. Er wetterte gegen die Heiligenverehrung und das Reislaufen, wobei letzteres das Interesse des Rats von Zürich erregte. Dort suchte man einen Prediger für das Großmünster, der die Zürcher davon abhalten sollte, ihr Geld mit Söldnerdiensten zu verdienen.

Das bekannte Porträt von Huldrych Zwingli, gemalt 1549 von Hans Asper

Das bekannte Porträt von Huldrych Zwingli, gemalt 1549 von Hans Asper

1519 trat Zwingli sein Amt an, und das sehr erfolgreich. Statt wie bisher über das Tagesevangelium zu predigen, übersetzte er auf der Kanzel das Evangelium nach Matthäus. Im eben diesem Sommer suchte eine Pestepidemie Zürich heim, die jeden vierten Bewohner das Leben kostete. Zwingli überlebte und sah darin ein Zeichen Gottes, dass er ausersehen war, die Kirche zu reformieren.

Kirchen und Klöster in Zürich vor der Reformation. Karte: Marco Zanoli, cc-by 4.0

Kirchen und Klöster in Zürich vor der Reformation. Karte: Marco Zanoli, cc-by 4.0

Zwinglis Karriere muss auf dem Hintergrund der Zürcher Expansion gesehen werden. In den Jahren zwischen 1400 und 1500 vergrößerte die Stadt ihr Gebiet um ein Vielfaches. Auch im Inneren versuchte der Rat, die Kontrolle zu gewinnen. Dabei konkurrierte er mit dem Bischof von Konstanz, der Jahrhunderte lang die Aufsicht über die kirchlichen Institutionen und Klöster geführt hatte und damit nach zeitgenössischem Verständnis der rechtmäßige Besitzer dieser Macht war.

Die einzige Waffe, die dem Bischof von Konstanz blieb, war ein Drohen mit der Strafe Gottes, und diese Drohung wurde im 16. Jahrhundert noch ernst genommen. In einer Zeit, in der nur 8% der Bevölkerung ihr 60. Lebensjahr erreichten, war das einzige Ziel der großen Mehrheit, sich nach dem Tod einen Platz in Gottes Reich zu sichern. Deshalb war ein Priester wie Zwingli, der anhand der Bibel beredt nachweisen konnte, warum dieser Raub Gott gefällig sei, für den Zürcher Rat ein nützliches Werkzeug.

Zwingli und der Rat von Zürich benutzten einander gegenseitig, um ihre Ziele zu erreichen. Zürich ermöglichte es Zwingli, seine Vision vom Gottesstaat in die Realität umzusetzen.

Der Kampf für die Reformation Zürcher Prägung war natürlich auch eine politische Frage und hatte Auswirkungen auf die Machtposition der Stadt Zürich innerhalb der Eidgenossenschaft. Es war also ein herber Rückschlag, als die Zürcher am 11. Oktober 1531 auf einem Feld bei Kappel ihre Niederlage gegen die vereinigten Streitkräfte der katholischen Orte erlitten. Jeder zehnte Zürcher Bürger verlor damals sein Leben. Zwingli wurde als Ketzer hingerichtet, was seine Zeitgenossen als Gottesurteil über Zwinglis Lehre interpretierten.

Zwingli Ausgabe von 1581

Zwingli Ausgabe von 1581

Für das nach der Schlacht von Kappel wiedererstarkte Zürich war das ein Image-Problem. Deshalb förderte der Zürcher Rat eine Prachtausgabe aller Werke Zwinglis anlässlich seines 50. Todestages, die wir Ihnen an dieser Station zeigen. Mit diesen Büchern traten die Zürcher den Beweis an, dass Zwinglis Lehre immer noch gelebt wurde, seine Reformation also erfolgreich gewesen war. Damit deutete der Rat Zwinglis Tod um: Gestorben war nicht ein Ketzer, sondern ein Märtyrer.

Wohl nichts zeigt klarer, wie die Zürcher Zwingli wahrgenommen haben wollten, als die Vignette der Widmung. Auf ihr reinigt Christus die Kirche von den Händlern.

Wohl nichts zeigt klarer, wie die Zürcher Zwingli wahrgenommen haben wollten, als die Vignette der Widmung. Auf ihr reinigt Christus die Kirche von den Händlern.

Zwingli rechtfertigte mit seinen Schriften gegen die Täufer das Vorgehen des Zürcher Rats gegen diese Gruppe von Reformierten, die nicht bereit waren, in Glaubensfragen die Autorität des Stadtrats anzuerkennen.

Ein Film über Zwingli im Reformationsjahr 2019

Bis heute ist das historische Bild Zwinglis verstellt von den verschiedenen Bildern, die für verschiedene Zwecke geschaffen wurden. Bei den schwindenden Zahlen von Kirchenbesuchern muss eine reformierte Kirche einen toleranten Gründervater präsentieren. Der Gotteskrieger Huldrych Zwingli passt nicht mehr in unsere Zeit.

Zwingli. Ein Film von Stefan Haupt, Drehbuch Simone Schmid, produziert von C-Films, EIKON und SRF.

Zwingli. Ein Film von Stefan Haupt, Drehbuch Simone Schmid, produziert von C-Films, EIKON und SRF.

Filme sind kommerzielle Unternehmungen und unterliegen der Geldlogik. Mit anderen Worten: Erfolg bedeutet für einen Film nicht, die Wahrheit gesagt zu haben, sondern möglichst viele Menschen dazu gebracht zu haben, Geld für diesen Film auszugeben. Dies geht in zwei Richtungen. Im Vorfeld müssen möglichst viele Fördergelder akquiriert werden, um so eine opulente Ausstattung zu gewährleisten. Danach zählt die Gunst des Publikums.

Schon das Thema „Zwingli“ war opportunistisch. Zum Zeitpunkt seiner Erstaufführung wurde das Reformationsjubiläum weltweit mit großem medialem Aufwand vorbereitet. Die reformierte Kirche erhoffte sich durch das Jubiläum eine erhöhte Aufmerksamkeit für ihre Inhalte, um so gegen die schwindende Zahl an Kirchenbesuchern anzukämpfen.

Kein Film ohne zarte Liebesbande

Im Film erleben wir eine zarte Liebesgeschichte zwischen der Witwe Anna Reinhart und dem Pfarrer Huldrych Zwingli, mit Erröten, zärtlicher Fürsorge, liebevollen Küssen und einfach allem, was wir uns heute von einer Liebesbeziehung erwarten. Das muss so sein, schließlich erwartet der Zuschauer heute – von einem Film genauso wie von einem Buch – eine nette Liebesgeschichte, möglichst in Kombination mit einer starken Frau, die mit ihrem Verhalten demonstriert, dass Frauen schon immer den Männern ebenbürtig waren.

Historisch ist das nicht. Gleichberechtigung ist eine Sache des 20. Jahrhunderts. Und unsere Vorstellungen von einer auf Liebe gründenden Ehe ist ein Konzept des 19. Jahrhunderts.

Zur Zeit Zwinglis heiratete man, um eine starke Wirtschaftsgemeinschaft zu bilden. Zuneigung war erwünscht, aber keine Bedingung. Zwingli wird seine Haushälterin danach ausgesucht haben, wie tüchtig sie ihm schien. Anna Reinhart schätzte an Zwingli, dass er als Leutpriester am Großmünster zu den bestbezahlten Beamten der Stadt gehörte.

Darstellung eines katholischen Abts aus dem Zürcher Totentanz. Der reformierte Dichter unterstellt dem Geistlichen Wollust, Geldgier und Bequemlichkeit. – Nicht anders als es ihm die Drehbuchautorin heute tut. Aus dem Totentanz von Rudolf und Conrad Meyer, Zürich 1650; neu herausgegeben 1759.

Darstellung eines katholischen Abts aus dem Zürcher Totentanz. Der reformierte Dichter unterstellt dem Geistlichen Wollust, Geldgier und Bequemlichkeit. – Nicht anders als es ihm die Drehbuchautorin heute tut. Aus dem Totentanz von Rudolf und Conrad Meyer, Zürich 1650; neu herausgegeben 1759.

Klar weiß die Allgemeinheit, wie es zur Reformation kam: Eine kleine Gruppe von selbstlosen Geistlichen revoltierte gegen die egoistischen Pfaffen, die die Angst der Christen vor dem Jenseits ausbeuteten, um es sich gut gehen zu lassen. Und das zelebriert Stefan Haupt und seine Drehbuchautorin: Ihre Handlung beginnt mit einer Kameraeinstellung auf ein Gemälde vom jüngsten Gericht. Eindrucksvoll fordert ein schmieriger Pfaffe von der frommen Witwe Anna, ihm das Geld für eine Seelenmesse zu geben, damit ihr Mann nicht im Fegefeuer braten müsse. Ja, schließt der Zuschauer daraus, so sind sie halt, die Katholiken: Egoisten, selbstverliebt, arrogant, intrigant und geldgierig, und das ohne Unterschied. Stefan Haupt bringt dieses Vorurteil auf den Punkt. All seine Darsteller von katholischen Geistlichen sind fett. Und – oh Schreck, oh Graus, der politisch korrekte Bürger, vielleicht sogar Veganer, wendet sich angewidert ab – sie tragen üppige Pelzkrägen. Die Reformatoren dagegen schwingen ihre eleganten, schwarzen Roben durch die Straßen, sind hübsche, junge Männer. Das unterscheidet sie von den Täufern, denen man ihre wilde Gesinnung schon an der wilden Barttracht ansieht.

Darstellung des Armenvogts des reformierten Zürichs. Aus dem Totentanz von Rudolf und Conrad Meyer, Zürich 1650; neu herausgegeben 1759. In erster Linie gingen die gewaltigen Besitzungen nämlich in die Kontrolle der Stadt Zürich über, die nach freiem Willen über das Einkommen verfügte. Ein bisschen ging natürlich auch an die Armen. Man richtete ein Amt ein, das sich darum kümmerte. Mehr schlecht als recht. Hatte die katholische Kirche mit den Stiftern klare Verträge geschlossen, wie viele Arme von den Erträgen zu welchem Zeitpunkt des Jahres gekleidet, gespeist oder mit Almosen versorgt werden sollten, entschied jetzt ein Beamter, wer Unterstützung verdiente. Dass nicht einmal die reformierten Mitbürger von diesem System überzeugt waren, illustriert der Zürcher Totentanz von 1650. Der Künstler wählte den Zürcher Armenvogt als Beispiel für einen korrupten Beamten.

Darstellung des Armenvogts des reformierten Zürichs. Aus dem Totentanz von Rudolf und Conrad Meyer, Zürich 1650; neu herausgegeben 1759. In erster Linie gingen die gewaltigen Besitzungen nämlich in die Kontrolle der Stadt Zürich über, die nach freiem Willen über das Einkommen verfügte. Ein bisschen ging natürlich auch an die Armen. Man richtete ein Amt ein, das sich darum kümmerte. Mehr schlecht als recht. Hatte die katholische Kirche mit den Stiftern klare Verträge geschlossen, wie viele Arme von den Erträgen zu welchem Zeitpunkt des Jahres gekleidet, gespeist oder mit Almosen versorgt werden sollten, entschied jetzt ein Beamter, wer Unterstützung verdiente. Dass nicht einmal die reformierten Mitbürger von diesem System überzeugt waren, illustriert der Zürcher Totentanz von 1650. Der Künstler wählte den Zürcher Armenvogt als Beispiel für einen korrupten Beamten.

Alles nur zum Wohle der Armen?

Die Szenenabfolge ist eindrucksvoll: Die edle Katharina von Zimmern übergibt dem Rat ihren Schlüssel zum Fraumünster – natürlich nur, um so die Botschaft des Evangeliums zu befolgen und die Armen mit den Erträgen ihres Klosters zu ernähren. Schnitt. Schnitt. Eine Reihe von hungrigen Armen stehen geduldig und lächelnd Schlange, um ihren Anteil an der Armenspeisung zu erhalten. Schnitt. Die Botschaft der Szenenabfolge: Die Klöster wurden aufgelöst, um die armen, armen Menschen zu ernähren.

Übrigens, Katharina von Zimmern übergab das Fraumünster nicht aus reiner christlicher Nächstenliebe. Sie verhandelte geschickt. Sie erhielt als Gegenleistung eine große Leibrente sowie das Wohnrecht in ihrem ehemaligen Kloster.

Felix Manz wird am 5. Januar 1527 in der Limmat ertränkt. Die Zeichnung entstand zwischen 1605 und 1606.

Felix Manz wird am 5. Januar 1527 in der Limmat ertränkt. Die Zeichnung entstand zwischen 1605 und 1606.

Ach, wie gerne hätte doch die Frau Anna ihren Mann überredet, die Täufer zu schützen. Sie ist ja die Gute, das Gewissen von Zwingli, der für den Zuschauer völlig unmotiviert gegen Ende des Films von einem netten Kerl erst zu einem hilflosen Zuschauer und dann gar zum Kriegsbefürworter wird. Denn schuld sind ja immer die anderen. Die Täufer wollen einfach nicht einsehen, dass jetzt nicht die Zeit ist für zusätzliche Zugeständnisse; die katholischen Priester – Intriganten, wir erinnern uns – wiegeln die Eidgenössische Tagsatzung auf, Zürich auszuschließen; und als sich die katholischen Orte weigern, sich von den reformierten Gutmenschen aushungern zu lassen, schwingt Zwingli sich entschlossen aufs Pferd, um – ja, was eigentlich? Der Film lässt diese Frage in der Luft hängen. Hätte er nämlich die Wahrheit gesagt, dass Zürich und Zwingli die ganze Eidgenossenschaft zu zwingen versuchten, die Reformation zu übernehmen, wäre das schöne Bild des netten Zwingli den Bach runtergegangen.

Tatsache bleibt, dass Zwingli die Hinrichtung und Vertreibung der Täufer mit seinen Schriften rechtfertigte, und dass er zentral am Beschluss des Zürcher Rats, die katholischen Orte zu bekriegen, beteiligt war. Ihm ging es nicht um das diesseitige Leben der Menschen, sondern um ihr Heil im Jenseits. Genauso wie einem Taliban. Nur passt das natürlich nicht in einen Film, den die reformierte Kirche nach Möglichkeit ihren Gläubigen empfehlen will.

Filme werden gemacht, um zu unterhalten. Und das ist auch in Ordnung. Drehbuchautorinnen wie Simone Schmid produzieren Zeitvertreib wie ihre Erfolgsserie „Der Bestatter“. Auch Stefan Haupt hat keinerlei Hintergrund als Historiker. Muss er auch nicht. Dass ihm allerdings die Theologische Fakultät der Universität Zürich den Ehrendoktortitel für den Film Zwingli verliehen hat, das sollte einen bedenklich stimmen.

Ursula Kampmann, Historikerin, Numismatikerin und Kuratorin der Büchersammlung des MoneyMuseums.

Ursula Kampmann, Historikerin, Numismatikerin und Kuratorin der Büchersammlung des MoneyMuseums.

Damit sind wir am Ende dieser Ausstellung. Unser Anliegen wäre erfüllt, wenn diese Ausstellung Sie ein wenig skeptischer gemacht hätte.

  1. Denn es gilt immer drei Fragen zu stellen, um den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu überprüfen:
  2. Was kann ihr Urheber über den Sachverhalt wissen?
  3. Welche Werte vertritt ihr Urheber?

Interessiert an weiterer Literatur zu Fact & Fake-News, Weltbilder und Mythen? Das MoneyMuseum beschäftigt sich zur Zeit mit diesen Werken:

Helmut Stalder, Mythos Gotthard..

Helmut Stalder, Mythos Gotthard..

Walter Oetsch. Mythos Markt.

Walter Oetsch. Mythos Markt.

Robert Kagan. The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World, 2019

Robert Kagan. The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World, 2019