Recht und Gerechtigkeit
Eine Ausstellung
von Ursula Kampmann,
Daniel Baumbach und
Teresa Teklic
Was ist Recht, was ist Gerechtigkeit? Zwei verwandte Begriffe, die aber weit auseinander liegen. Und doch gehören sie zusammen, denn Recht ist nicht Willkür. Um dieses Thema von unterschiedlichen Standpunkten aus zu beleuchten, haben wir aus der Bibliothek des MoneyMuseums einige Bücher herausgesucht, in denen Recht oder Gerechtigkeit eine Rolle spielt.
Die Kernaussage der Ausstellung ist, dass sowohl Recht als auch Gerechtigkeits-Empfinden zeitgebunden sind; und dass sich auch heutiges Recht mit der Rache schwer tut. Wut, Groll und Rache sind Entwicklungsstufen von Unzufriedenheit, die eine Gesellschaft zerreissen kann trotz allen Rechten und Gesetzen.
Eins: Kein gleiches Recht für alle
Wenn wir mittelalterliche Legenden als Massstab nehmen, brachten die Römer alle Christen auf brutalste Weise um: Sie wurden in der Arena von wilden Löwen gefressen, gekreuzigt, gesteinigt und anders mehr. Tatsächlich stand hinter diesen Formen der Hinrichtung ein ausgeklügeltes Rechtssystem, an das sich die römische Richter hielten. Dass dieses Rechtssystem funktionierte, zeigt uns der Fall des Paulus von Tarsos.
Der Apostel Paulus gehört zu den historisch gesicherten Persönlichkeiten des Neuen Testaments. Auf seinen Missionsreisen, die sowohl in der Apostelgeschichte als auch in seinen Briefen überliefert sind, wurde er mehr als einmal gefangengesetzt. Zu einer Verurteilung kam es fast nie. Denn Paulus verfügte im Unterschied zu seinen Glaubensbrüdern über das wohl grösste Privileg, das man zu seiner Zeit haben konnte: Das Römische Bürgerrecht.
Das römische Bürgerrecht hatte strafrechtliche Konsequenzen: Es beinhaltete das Recht auf einen ordentlichen Prozess. Ein römischer Bürger durfte nicht gefoltert werden und konnte jederzeit an die höchste Instanz appellieren, an den Kaiser. Dazu gewährte es Immunität gegenüber lokalen Gesetzen. Ein römischer Bürger konnte sich im gesamten römischen Reich auf sein Bürgerrecht berufen.
Was das römische Bürgerrecht für Paulus bedeutete, illustrieren mehrere Textstellen:
„Als es Tag wurde, schickten die obersten Beamten die Amtsdiener und liessen sagen: Lass jene Männer frei! Der Gefängniswärter überbrachte Paulus die Nachricht: Die obersten Beamten haben hergeschickt und befohlen, euch freizulassen. Geht also, zieht in Frieden! Paulus aber sagte zu ihnen: Sie haben uns ohne Urteil öffentlich auspeitschen lassen, obgleich wir römische Bürger sind, und haben uns ins Gefängnis geworfen. Und jetzt möchten sie uns heimlich fortschicken? Nein! Sie sollen selbst kommen und uns hinausführen. Die Amtsdiener meldeten es den obersten Beamten. Diese erschraken, als sie hörten, es seien römische Bürger. Und sie kamen, um sie zu beschwichtigen, führten sie hinaus und baten sie, die Stadt zu verlassen“
Quellen des 2. Jahrhunderts n. Chr. sprechen davon, dass Paulus letztendlich doch hingerichtet wurde, und zwar mit dem Schwert. Das galt damals als eine ehrenvolle Todesart und ist als Privileg des römischen Bürgers zu verstehen. Es mag für uns nicht danach klingen, aber wenn alternativ Steinigung, Kreuzigung oder Löwen im Raum stehen...
Jeder Mensch hat seinen Stand
Immer wieder sieht man in Geschichtsbüchern die mittelalterliche Ständepyramide: Oben Papst und Kaiser, dann der Adel und irgendwo unten der Rest der Bevölkerung. Ganz so einfach war es nicht, aber im Kern stimmt die Aussage: Die mittelalterliche Gesellschaft war hierarchisch aufgebaut. Jeder hatte seinen festen Platz innerhalb einer gottgegeben Ordnung. Um so weiter unten ein Mensch stand, desto weniger Rechte besass er.
Selbstverständlich gab es eine Rechtsprechung basierend auf Gewohnheitsrechten. Solche Gewohnheitsrechte stellte der Sachsenspiegel, den wir hier im Faksimile zeigen, zusammen. Er gilt als die wichtigste Kodifizierung mittelalterlichen Rechts und verschriftlicht das Gewohnheitsrecht der Sachsen. Der Jurist Eike von Repgow ist sein Verfasser. Er behandelt darin so unterschiedliche Themen wie Lehnsrecht und Königswahl, Erbangelegenheiten, Familien-, Straf- und Verfahrensrecht.
Der Sachsenspiegel war ein wichtiger Grundsatztext. Deshalb ist er in zahlreichen Handschriften erhalten. Unser Beispiel wird als „Heidelberger Sachsenspiegel“ bezeichnet, weil er in Heidelberg aufbewahrt wird. Wie die meisten Kopien ist er üppig illustriert; schliesslich konnten zu der Zeit, als dieses Recht Anwendung fand, die wenigsten Fürsten lesen. Der Sachsenspiegel war ein Fortschritt. Mit ihm wurde Recht verschriftlicht, dabei vereinheitlicht und für einen grösseren Kreis zugänglich gemacht. Kaum ein anderer Gesetzestext fand so grosse Verbreitung.
Zwei: Wer sorgt für Gerechtigkeit?
Bei der Frage nach Gerechtigkeit geht es nicht nur darum, wie das Gesetz den Menschen behandelt, sondern auch, wer diese Gesetze aufstellt und für ihre Einhaltung sorgt. Ein jähzorniger Gott, ein launischer Monarch oder ein vom Volk gewähltes Parlament?
Im Folgenden stellen wir zwei Geschichten vor, die in ihrer Entstehung mehr als zwei Jahrtausende auseinander liegen – König Ödipus aus dem 5. Jh. v. Chr. und Michael Kohlhaas von 1808. Sie illustrieren die Gefahren zweier entgegengesetzter Systeme.
Die Geschichte des Ödipus ist wahrhaftig tragisch. Damit ist gemeint, dass eine Figur Leiden erfährt, egal wie sie selbst handelt, weil ihr Schicksal bereits besiegelt ist. Dieser Kampf des Einzelnen gegen ein übermächtiges Schicksal ist Gegenstand der griechischen Tragödie. Im Falle von Ödipus wird bereits vor seiner Geburt von den Göttern vorausgesagt, dass er seinen Vater ermorden und seine Mutter ehelichen wird. Alles, was seine Eltern und er selbst unternehmen, um dieses Schicksal abzuwenden, führt perfider Weise nur dazu, dass es sich tatsächlich so ereignet.
So setzen ihn seine Eltern, König Laios und Jokaste, als Kleinkind aus, damit er Vatermord und Inzest nie begehen kann. Doch sein Leben bei Adoptiveltern macht erst möglich, dass er später diese Unglückstaten vollbringt, ohne seine biologischen Eltern zu erkennen. Wie man es auch dreht und wendet, Ödipus kann nicht gewinnen. Als die schreckliche Wahrheit ans Licht kommt, nimmt sich Jokaste das Leben und Ödipus das Augenlicht.
Ödipus: schuldig oder unschuldig? Das ist eine spannende Frage. Faktisch macht er sich mehrerer Straftaten schuldig. Er erschlägt seinen Vater Laios während eines Handgemenges an einer Wegkreuzung und begeht damit Vatermord. Später löst er das Rätsel der Sphinx vor der Stadt Theben und erhält zum Dank die Witwe Jokaste zur Frau. Indem er sie ehelicht und mit ihr mehrere Kinder zeugt, begeht er Inzest. In der Welt der alten Griechen zählte alleine die Tat. Ob Ödipus je die Absicht hatte, etwas Ungesetzliches zu tun, spielte keine Rolle.
Im heutigen Strafrecht ist das anders. Die Absicht ist von zentraler Bedeutung. Wenn Ödipus seinen Vater vorsätzlich getötet hätte, könnte man von Mord sprechen. Fehlt dieser Vorsatz, würde man den Zusammenstoss mit seinem Vater als Notwehr oder Totschlag interpretieren – das ist ein grosser Unterschied. Das Gleiche gilt für die Ehe mit seiner Mutter: Weder Ödipus noch Jokaste wissen zum „Tatzeitpunkt“ um ihr Verwandtschaftsverhältnis. Sie begehen also keine vorsätzliche Straftat. Nach modernem Recht wären sie demnach wahrscheinlich unschuldig und würden in puncto Inzest freigesprochen.
Der griechische Dramatiker Sophokles schrieb seine Version des Ödipus-Mythos im 5. Jh. v. Chr. Der Stoff erfreut sich bis heute grosser Beliebtheit und wurde in unzähligen Auflagen herausgegeben. Bei unserem Buch handelt es sich um eine aufwendige Ausgabe von André Gonin von Lausanne und vom Künstler Hans Erni original signiert.
Selbstjustiz: Der Mensch erhebt sich über das Gesetz
Die Erzählung spielt in der Mitte des 16. Jahrhunderts und handelt vom Pferdehändler Michael Kohlhaas, der gegen ein Unrecht, das man ihm angetan hat, zur Selbstjustiz greift und dabei nach der Devise handelt: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“.
Selbstjustiz und Gewalt erscheinen ihm als letzte, aber gerechtfertigte Mittel, die Ordnung wiederherzustellen.
Was war geschehen? Dem Pferdehändler Kohlhase wurden an der Grenze von Brandenburg zu Sachsen unrechtmässig Zölle und Pferde abgenommen. Deutschland war damals ein Flickenteppich kleiner Staaten mit unterschiedlichen Gesetzen. Nachdem Kohlhase vergeblich bei allen möglichen gerichtlichen Instanzen auf Schadensersatz geklagt hatte, nahm er die Sache selbst in die Hand. Er begann einen privaten Rachefeldzug gegen den Burgherrn, der ihn betrogen hatte. Dabei legte er weite Teile Sachsens in Schutt und Asche. Als sein Fall schliesslich an höchster Stelle landete, bekam er endlich den Schadensersatz für seine Rappen – und wurde für seine Verbrechen zum Tode verurteilt.
Inspiriert von dieser Begebenheit schrieb der deutsche Schriftsteller Heinrich von Kleist 1808 seine Novelle „Michael Kohlhaas“. Die Geschichte von Michael Kohlhaas wurde wegen der darin enthaltenen politischen Botschaft immer wieder herausgegeben.
Drei: Weltliches oder Kirchliches Recht?
Haben Sie schon mal von der Bezeichnung Doktor beider Rechte gehört? Gemeint ist ein Jurist, der sowohl im weltlichen als auch im kirchlichen Recht ausgebildet war. Denn im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurden Kleriker und Nicht-Kleriker nach unterschiedlichen Gesetzen abgeurteilt.
Um das Durcheinander der verschiedenen Gesetzgebungen zu illustrieren, stellen wir Ihnen in dieser Station zwei Bücher vor, wie sie Juristen im beginnenden 18. Jahrhundert benutzten.
Weltliches Recht
Das im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gültige Strafrecht war Jahrhunderte lang eine wilde Mischung aus regionalen Gewohnheitsrechten, Rechtstexten aus dem Mittelalter, persönlichen Vorlieben des Landesherren und dem überliefertem römischen Recht der Antike. Nicht nur politisch war das Reich zersplittert, auch wenn es um die Strafverfolgung ging, machte jeder Landesherr, was er für richtig hielt, bis Karl V. im Jahr 1532 erstmals ein einheitliches Strafgesetzbuch veröffentlichte, die Constitutio Criminalis Carolina.
Auch wenn uns die darin enthaltenen Strafen wie das Rädern, das Sieden oder das Verstümmeln unmenschlich erscheinen, galt das Gesetzeswerk seinen Zeitgenossen als grosser Fortschritt. Wer fortan wegen eines Schwerverbrechens vor ein Gericht gezogen wurde, wusste, nach welchen Regeln er bestraft wurde.
Dass die „Carolina“ auch zwei Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen den Verlauf eines Strafprozesses bestimmte, illustriert der hier vorgestellte Kommentarband. Er wurde 1709 von Johann Christoph Frölich von Frölichsburg veröffentlicht und immer wieder nachgedruckt. Unser Buch stammt aus der 4. Auflage von 1727. Frölich erläutert darin, wie die „Carolina“ zu verstehen und anzuwenden sei. Damit trug er zu einer weiteren Vereinheitlichung der Strafen bei, da viele Richter seinen Vorschlägen folgten.
Kanonisches Recht
Für Angehörigen des geistlichen Standes - Nonnen und Mönche, Bischöfe und Pfarrer - galt ein anderes Recht, das kanonische Recht. Es ordnete alle kirchlichen Lebensbereiche. Oberster Gesetzgeber war der Papst. Grundlage des kanonischen Rechts waren die biblischen Schriften und die Lehren der Kirchenväter. Das war kompliziert, da sich diese häufig wiedersprachen. Aus einer Vielzahl an Aussagen galt es Regeln zu formen, also einen Kanon zu schaffen, deshalb die Bezeichnung kanonisches Recht.
Auch gewöhnliche Bürger kamen mit geistlichen Gerichten in Kontakt, und zwar immer wenn es um Verbrechen ging, die in einen Bereich fielen, den die Kirche für sich reklamierte. Dazu zählte das Eherecht, aber auch Fragen der Rechtgläubigkeit. Wer hier sündigte, musste sich vor einem geistlichen Gericht verantworten, wurde für die Bestrafung aber der weltlichen Justiz übergeben.
Das kanonische Recht war in einem Buch, dem Corpus Iuris Canonici, zusammengefasst. Dabei handelt es sich eher um eine Aneinanderreihung von Texten als um einen Gesetzestext im modernen Sinn. Es versammelte wichtige kirchliche Gesetze, die meisten davon aus dem Mittelalter. Dazu kamen päpstliche Erlasse, die diese Gesetze modifizierten. Um 1580 war das Corpus Iuris Canonici mehr oder weniger abgeschlossen. Er wurde immer wieder aufgelegt. Unser Beispiel entstand 1696 in der Stadt Basel.
Das Problem, das das Corpus Iuris Canonici für alle ambitionierten Fürsten stellte, kann diese Karte des Heiligen Römischen Reichs aus dem Jahr 1648 nur andeuten. Kirchliche Territorien standen nicht unter landesherrlichem, sondern unter kirchlichem Recht. Wer sein Gebiet vereinheitlichen wollte, strebte danach, den Einfluss der katholischen Kirche - und natürlich ihres Rechts - zurückzudrängen.
Hier liegt einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg der Reformation. Luther liess sich mit seinen Aussagen leicht instrumentalisieren. Vielen Fürsten gefielen seine Beschreibungen des kanonischen Rechts als „Schale des göttlichen Zorns“ und „vergiftetes Recht“, nicht nur im 16. Jahrhundert.
Vier: Die Aufklärung und die Suche nach Gerechtigkeit
Im 18. Jahrhundert herrschte in Frankreich ein absolutistischer Monarch und grosse Ungerechtigkeit. Nicht nur zwischen König und Untertanen, sondern auch innerhalb der Untertanen selbst. Privilegien waren ungleich verteilt, so mussten Bauern und Bürger beispielsweise Steuern zahlen, Adel und Kirche jedoch nicht.
Durch die Aufklärung verbreitete sich die Idee, dass eine andere Welt möglich sein könnte, innerhalb der aufstrebenden Bürgerschicht. So waren es die Bürger, die in der ersten Phase die Französische Revolution von 1789 befeuerten. Sie forderten ihre Mitwirkung an einem gerechten Staat.
Wie so ein Staat in den Augen der Aufklärer aussehen sollte, damit beschäftigt wir uns hier. Wir stellen Ihnen den Philosophen Montesquieu vor, der bis heute gültige Theorien dazu entwickelte. Den Namensgeber unseres zweiten Buchs kennt man eher als Feldherrn denn als Gesetzgeber: Napoleon Bonaparte. Er setzte die Ideen der Aufklärung in seinem bürgerlichen Gesetzbuch, dem Code Napoléon, um.
Wie ein gerechter Staat aussieht: Zur Theorie
Diese Ideale wurden in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte niedergeschrieben und am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündet.
Diese damals radikalen Feststellungen basierten auch auf dem Hauptwerk des Philosophen Montesquieu, mit vollem Namen Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu. Er stammte also selbst aus einer adligen und damit privilegierten Familie. Montesquieu war ein Verfechter der konstitutionellen Monarchie, zu Beginn der Revolution eine weit verbreitete politische Haltung.
Sein Hauptwerk Vom Geist der Gesetze (= De l’esprit des loix) übt Kritik am absolutistischen Regime in Frankreich. Es gehört zu den einflussreichsten Werken der Staatsphilosophie und beschreibt die drei Regierungsformen Monarchie, Republik und Despotie. und versucht zu verstehen, auf Grund welcher Faktoren Regierungen scheitern oder erfolgreich sind.
Montesquieu unterscheidet in seinen Kapiteln zwischen „Des Loix de la Nature“ und „Des Loix positives“: Vom Naturrecht und vom positiven Recht. Diese Unterscheidung gewann mit ihm grosse Bedeutung. Als Naturrechte definiert Montesquieu Rechte, die seiner Ansicht nach allen Menschen gleichermassen zustehen. Seine Naturrechte sind die Vorläufer unserer heutigen Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit. Positives Recht hingegen ist für ihn das vom Menschen gemachte Gesetz. Es ist nicht wie das Naturrecht an Vernunft- oder Moralvorstellungen gebunden, sondern setzt Interessen des Gesetzgebenden durch.
In der Zeit der Aufklärung entstand eine Fülle radikal neuer Gedanken, die Europa sichtbar verändern sollten. Philosophen wie John Locke und Thomas Hobbes in England und Jean-Jacques Rousseau und Montesquieu in Frankreich stellten neue Theorien zu Menschenrechten und Regierungssystemen auf. Viele ihrer Ideen sind bis heute Grundlagen unseres politischen Denkens:
- Dass alle Menschen frei geboren werden,
- dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind,
- dass nicht Gott dem Regierungsoberhaupt seine Macht verleiht, sondern das Volk,
- oder dass der Staat seinen Bürgern Religionsfreiheit gewährt.
Die wichtigste Idee, die Montesquieu der Nachwelt hinterliess, ist die Gewaltenteilung als verfassungsrechtliches Prinzip, auch wenn man dieses Prinzip damals noch nicht so nannte. Seine Idee wurde mit dem Prinzip der „checks and balances“ 1787 erstmals in der Verfassung der Vereinigten Staaten festgeschrieben.
Ein aufgeklärtes Gesetz für Europa: Der Code Civil
Während der Revolutionskriege zeigte ein aus Korsika stammender General ein besonderes militärisches Geschick: Napoleon Bonaparte. Die Armee verehrte ihn für seine erfolgreichen Feldzüge. Mit ihrer Unterstützung putschte er sich im November 1799 an die Spitze der Französischen Republik. Mit seiner „Grande Armée“ eroberte er weite Teile Europas. Zwischenzeitlich kontrollierte er Spanien, Italien, die Schweiz, umfangreiche Gebiete Deutschlands und Polens. Als die Ära Napoleon 1815 mit der Schlacht von Waterloo endete, liessen sich viele seiner Neuerungen nicht mehr zurücknehmen.
Napoleons Gesetzbücher prägten Europa nachhaltig. Der Code Civil, das erste Bürgerliche Gesetzbuch, verankerte die Ideale der französischen Revolution in der Rechtsprechung. Er fusst auf der Gleichheit aller Bürger, dem Schutz des Privateigentums und der Trennung von Kirche und Staat. Dem 1804 veröffentlichten Code Civil folgten vier weitere Gesetzbücher: Mit dem Code de procédure civile (Zivilprozessordnung), dem Code de commerce (Handelsgesetzbuch), dem Code d’instruction criminelle (Strafprozessordnung) und schliesslich dem Code pénal (Strafgesetzbuch) entstand ein umfassendes Gesetzeswerk. Da der Code Civil nicht nur in Frankreich galt, sondern auch in allen von Frankreich annektierten Gebieten, verbreitete er sich in weiten Teilen Europas – und mit ihm die Ideale der französischen Revolution.
Der erste Band der napoleonischen Gesetzestexte, das zivile Gesetzbuch, befasste sich mit dem Privatrecht. Es regelte Angelegenheiten wie den Besitz von Eigentum, Erbrecht oder Ehescheidung. Eine entscheidende Neuerung war, dass der Code Civil die Bürger nicht mehr in Stände aufteilte, sondern gleich behandelte. Damit machte er eins der drei wichtigen Schlagworte der Revolution – Gleichheit – rechtlich bindend – allerdings nur für Männer.
Eine weitere Errungenschaft der Revolution, die mit Napoleon Rechtsgültigkeit erlangte, war die Trennung von Kirche und Staat.
Fünf: Schuld und Strafe
Wer gegen geltendes Recht verstösst, der wird bestraft. Doch wie bestraft man einen Täter und was will man mit der Strafe erreichen? Darüber gab und gibt es verschiedene Vorstellungen.
„Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fusss für Fuss, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“, so lautet ein biblischer Rechtsgrundsatz. Auf ihm basierte die Vorstellung, dass eine Gemeinschaft Gottes Willen erfüllte, wenn sie den Täter dem Verbrechen angemessen bestrafte. Als angemessen galt damals die Körperstrafe. Einen Verbrecher zu „belohnen“, indem man ihm in einem Gefängnis die Sorge um sein leibliches Wohl abnahm, während rechtschaffene Menschen gleichzeitig hungerten, wäre einem Richter der frühen Neuzeit nicht in den Sinn gekommen.
Unser erstes Beispiel führt uns ins 18. Jahrhundert, ein Bericht über einen Diebstahl im Berliner Schloss und seine Bestrafung. Unser zweites Beispiel stammt aus dem 20. Jahrhundert, als man diskutierte, ob eine Strafe nicht die Möglichkeit zur Resozialisierung beinhalten solle.
Was damals als Kapitalverbrechen bezeichnet wurde, unterscheidet sich grundlegend von heute, wie die detaillierte Beschreibung eines Gerichtsprozesses in Berlin zeigt, an dessen Ende zwei besonders brutale Hinrichtungen standen:
Am 8. Juni 1718 wurden der Kastellan des Stadtschlosses Valentin Runck und der Hofschlosser Daniel Stieff zur Richtstätte ausserhalb der Stadt gebracht. Dort erwartete sie vor den Augen schaulüsterner Zuschauer der Tod durch Rädern, also durch das Brechen der Knochen und zwar von unten nach oben. Dies war die schlimmere Variante. Ein gnädiger Richter entschied auf Rädern von oben nach unten, was schneller zum Todes führte.
Die Hingerichteten waren weder Massenmörder noch Kinderschänder, sie waren kleine Gelegenheitsdiebe. Ihr grosser Fehler war, nicht irgendjemanden zu bestehlen, sondern ausgerechnet den König von Preussen. Damit machten sie sich eines Majestätsverbrechens schuldig, das in den Augen der Zeitgenossen schlimmer war als Mord oder Todschlag. Schliesslich galt der König im 18. Jahrhundert noch als Herrscher von Gottes Gnaden. Die Diebe hatten also nicht nur wider den König, sondern wider Gott versündigt.
Der Kastellan, eine Art königlicher Hausmeister, hatte den Hofschlosser angestiftet, die Schränke der königlichen Münzsammlung aufzubrechen. Immer wieder bedienten sich die beiden daraus, bis ein Goldschmied, bei dem der Schlosser mit einer antiken Goldmünze bezahlen wollte, den Prozess ins Rollen brachte.
Der König reagierte auf dieses Majestätsverbrechen. Wer von der Tat wusste, sollte auch die Strafe miterleben. Die königliche Macht wurde öffentlich demonstriert und für all diejenigen, die nicht selbst zur Hinrichtung nach Berlin kommen konnten, liess er den Prozess und die Strafe in einem mit mehreren Kupferstichen illustrierten Buch darstellen.
Chance auf Besserung?
Wer hingerichtet wird, dem nimmt man die Chance, sein Leben zu ändern. Ganz anders bei der Gefängnisstrafe. Um 1800 löste der geregelte Freiheitsentzug die Körperstrafe als Regelstrafe ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gesellschaft bereits Erfahrung darin, unliebsame Subjekte in Arbeits- und Zuchthäuser wegzusperren oder in die Kolonien zu verschicken, wo sie durch harte Arbeit selbst für ihren Unterhalt aufkommen und - so zumindest die Theorie - für die Gesellschaft einen Mehrwert erarbeiten sollten. Damit verband sich die Vorstellung, dass so eine Strafe dem Straftäter die Chance gibt, sich zu einem besseren Menschen zu entwickeln.
In der Praxis war dies schwer bis unmöglich. Wer einmal im Gefängnis gesessen hatte, wurde sozial geächtet und hatte kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung.
Ein Beispiel dafür bietet das Schicksal des fiktiven Kleinkriminellen Willi Kufalt, das der Schriftsteller Hans Fallada in seinem Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ von 1934 schildert: Willi Kufalt wird nach fünf Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Er will ein anständiges Mitglied der Gesellschaft werden, doch seine Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Als er von seinem Arbeitgeber wegen seiner kriminellen Vergangenheit zu Unrecht verdächtigt und entlassen wird, verlässt ihn seine Verlobte und seine mühsam aufgebaute Existenz bricht zusammen. Er sieht keinen anderen Ausweg mehr, als erneut straffällig zu werden und „beweist“ damit die Wahrheit des Sprichworts: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst - also im Gefängnis sitzt -, der tut es immer wieder.
Sechs: Die Faszination der privaten Rache
Im einfachsten Sinne heisst Rache, dass Einer dem Anderen ein Unrecht tut, und der Andere dem Einen danach ebenfalls ein Unrecht tut, um Gerechtigkeit wiederherzustellen. Im juristischen Sinne kann man Rache als archaisches, vor-rechtliches Instrument verstehen, das im Laufe der Geschichte durch das Strafrecht ersetzt wurde. Nicht mehr das Individuum war verantwortlich für die Bestrafung einer Tat, sondern der Staat. Das Strafmass wurde genau geregelt und in Paragraphen festgehalten. Aber auch die besten Rechtssysteme der Welt können nicht absolut gerecht sein, sodass die private Rache nie vollständig ausgemerzt werden kann.
Menschliches Leiden ist nicht quantifizierbar und wird in den meisten Fällen durch ein Gerichtsurteil nicht gemildert. Wahrscheinlich sind solche blinden Flecken im System der Grund für die anhaltende Faszination mit der privaten Rache. Um genau die soll es hier gehen. Obwohl Rache kein modernes Konzept ist, erfreut sie sich auch in unserer heutigen Massenkultur grosser Beliebtheit. Wir werfen einen Blick auf die Entstehung des modernen Racheplots, von den Zeitungsromanen des 19. Jahrhunderts bis hin zu Quentin Tarantinos Filmen des 21. Jahrhunderts, vom Grafen von Monte Christo bis zu Kill Bill.
Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Christo erzählt die Geschichte des jungen Seefahrers Edmond Dantes. In der Blüte seines Lebens – er wurde soeben zum Kapitän befördert und ist glücklich in die schöne Mercedes verliebt – wird dieser durch eine Intrige seiner Nebenbuhler unschuldig zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Jahren gelingt ihm die Flucht. Er gelangt mithilfe eines Schatzes zu neuem Reichtum, legt sich einen neuen Namen zu – der Graf von Monte Christo – und beginnt den langwierigen Rachefeldzug gegen seine früheren Widersacher. Viele Menschen müssen sterben, bevor er schliesslich lernt, zu verzeihen.
Dumas’ Roman spielt in einer Zeit, in der Frankreich von politischen Unruhen und vielen Machtwechseln geprägt war. Die Konfliktlinien zwischen Bonapartisten und Royalisten, den zwei grossen politischen Lagern der Zeit, spiegeln sich im Text. Eine Generation der Figuren steht symbolisch für die alte Garde der Bonapartisten, die im Buch mit ehrlich verdientem Geld, Idealismus und Aufrichtigkeit verknüpft werden. Die werden der neuen Garde, den Royalisten, gegenübergestellt, die als Opportunisten und Karrieristen nur auf moralisch fragwürdige Weise zu Geld kommen. In diesem Sinne rechnet Der Graf von Monte Christo nicht nur mit privaten Ungerechtigkeiten ab, sondern auch mit den politischen Zuständen seiner Zeit.
Rache auf der grossen Leinwand
In Tim Burtons Sweeney Todd wird der Barbier Benjamin Barker unschuldig ins Gefängnis geworfen und rächt sich nach seiner Freilassung am Richter, der seine Frau misshandelt und umgebracht hat. In V for Vendetta übt ein Freiheitskämpfer Rache an einem totalitären Staat, der seine Macht zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und illegalen Experimenten an seinen Bürgern missbraucht hat. Und in Quentin Tarantinos Kultfilm Kill Bill sucht die Heldin, Beatrix Kiddo, Vergeltung für den Mordversuch an ihrer eigenen Person. Nachdem sie diesen nur knapp überlebt hat, begibt sie sich auf die tödliche Mission, ihren Ex-Mann und alle Beteiligten der Reihe nach abzuschlachten.
Alle hier vorgestellten Filme enthalten exzessive, graphische Darstellungen von Gewalt. In Tarantino-Filmen sprudelt das Blut nur so aus aufgeschlitzten Menschen heraus, Kill Bill ist da keine Ausnahme. Der Barbier in Sweeney Todd hat ein recht makabres Hobby, er dreht seine Mordopfer kurzerhand durch den Fleischwolf und verkauft sie nebenan in der Bäckerei als Pastetenfüllung. Rache ist nie eine Reaktion auf Schicksalsschläge, sondern immer auf das absichtliche Handeln von Personen. An der Natur kann man sich nicht rächen, an einem Menschen schon.
Die Rache von zwei Liebenden wirft viele Fragen auf bezüglich Gerechtigkeit
Zusatz von Jürg Conzett: in Diskussionen mit Besuchern fiel die Sprache immer wieder auf die Akte Kachelmann. Im März 2010 wird der Fernsehmoderator Jörg Kachelmann verhaftet, die Anzeige lautet auf Vergewaltigung. Seine ex-Freundin hat ihn verklagt und die Medien sowie der Polizeiapparat nehmen sofort Stellung gegen Kachelmann.
Eine persönliche Rache seiner früheren Lebensgefährtin, wie es sich nachträglich herausstellt. Kachelmann wird während Monaten in Untersuchungshaft gesetzt, bis das Oberlandgericht Karlsruhe den Haftbefehl als ungültig erklärt. Im Prozess wird er als unschuldig erklärt. Die Klägerin muss führ ihren Rachefeldzug nicht büssen. Gerechtigkeit vor Recht?
Kachelmann und seine damalige Freundin, bzw. heutige Ehefrau verfassen ein Buch, in dem er das Erleben aus seiner Sicht schildert, während sie über die Erfahrung mit der Justiz schreibt. So ist das Buch zwar aus einseitiger Sicht verfasst, aber interessant für seine Beschreibungen des Gefängnis-Lebens und die Verhandlungen mit der Justiz, die Mühe hat, zwischen Recht und ihrer Sicht der Gerechtigkeit zu unterscheiden. Das Arumentation des Richters wird so beschrieben: "Die Patientin sagt, sie habe Erinnerungslücken. Also hat sie ein Trauma. Folglich muss sie vergewaltigt worden sein, sonst hätte sie kein Trauma". Ein sog. Zirkelschluss eines Richters?
Der Sender ARD produzierte 2017 eine 15-minütige Sendung, in der die Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit dargelegt wird und die sich lohnt anzuschauen.
Recht, Gerechtigkeit, Rache:
So unterschiedlich diese Begriffe interpretiert, ausgeübt und beurteilt werden, sie stehen im Zentrum unserer Gesellschaft.
So soll die Review der Bücher motivieren, auch über Gerechtigkeit unserer Wirtschafts- und Gesellschafts-Ordnung nachzudenken. Der Aufschwung der rechts-radikalen Bewegung, der Drang zur illiberalen Demokratie, Autoritarismus und die globalen Ungleichgewichte stehen zur Debatte. Dieselben Fragen stellen sich auch für China, das wir diesbezüglich noch kaum kennen.