Psychogramm China

Prägende Werte und Ideologie einer Weltmacht

Niemand wird bezweifeln können, dass sich die Welt derzeit im folgenreichsten Umbruch seit dem Ende des Kalten Kriegs befindet. Die Zäsur, die durch die Covind-19 Pandemie in 2020 und 2021 noch akzentuiert worden ist, markiert, zumindest in Asien, den Übergang von der Pax Americana zur Hegemonialmacht China. 

Die Redimensionierung des amerikanischen Einflusses in der Welt und insbesondere in Asien wurde zwar durch die sprunghafte Aussen- und Sicherheitspolitik von Präsident Donald Trump losgetreten, ist aber mit der Amtsübernahme der Administration Biden nicht zu ihrem Ende gekommen. Wir befinden uns mitten in einer Phase der welt- und geopolitischen Umbrüche.

Mit dem Jahrtausend-Wechsel brach das asiatische Jahrhundert an.

Seither hat sich eine neue globale Hackordnung etabliert. An deren Spitze befinden sich die USA und die Volksrepublik China. Was Asien anbetrifft, so folgen auf einer zweiten Ebene die aufstrebende Grossmacht Indien und Japan. Europa und auch die eurasische Landmacht Russland spielen in Süd- und Ostasien keine Rolle mehr.

Ein Blick in die Weltgeschichte zeigt, dass jedes Mal, wenn eine neue Weltmacht ihren »Platz an der Sonne» angestrebt hat, es zu grossen Kriegen gekommen ist.

Man denke an Napoleon, an das Deutsche Reich, an das Dritte Reich und an das japanische Imperium. Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, ob diesmal die Rekonfiguration der Weltordnung ohne massive Verwerfungen über die Bühne gehen wird. 

Bis anhin hat Chinas Aufstieg noch keinen grossen Krieg ausgelöst, doch darf nicht übersehen werden, dass es in Asien eine Reihe von schlummernden Konfliktherden gibt, die leicht in ein akutes Stadium militärischer Konfrontationen aufbrechen können. Wir denken an die koreanische Halbinsel, an Inselstreitigkeiten zwischen China und Japan, an das Südchinesische Meer, an Taiwan und an die indisch-chinesischen Grenzstreitereien.

Joan Nieuhoff, L’Ambassade de la Compagnie Orientale des Provinces Unies vers l’Empereur de la Chine, ou Grand Cam de Tartarie, 1665. China war das Traumland jedes Händlers und vor allem jedes Investors in ganz Europa. In China gab es die Waren, nach denen die europäischen Märkte dürsteten.

Joan Nieuhoff, L’Ambassade de la Compagnie Orientale des Provinces Unies vers l’Empereur de la Chine, ou Grand Cam de Tartarie, 1665. China war das Traumland jedes Händlers und vor allem jedes Investors in ganz Europa. In China gab es die Waren, nach denen die europäischen Märkte dürsteten.

Das moderne Shanghai.

Das moderne Shanghai.

Nicht nur um das Kriegspotenzial von Chinas Aufstieg richtig ermessen zu können, sondern auch um eine gute Vorstellung davon zu gewinnen, was es für die Welt bedeutet, wenn ein Teil des dominanten Duopols die Weltmacht China ist, ist es unerlässlich, den historischen Kontext des heutigen Geschehens auszuleuchten.

China ist in seiner Rolle der Weltmacht kein Neuling, kein Emporkömmling. Es war über den grössten Teil seiner Geschichte hinweg eine Hegemonialmacht. Nicht ohne Grund bezeichnet es sich als Reich der Mitte, wobei diese zentrale Stellung ausdrücklich nicht nur als Folge von wirtschaftlicher, militärischer und technologischer Macht gesehen wurde. Auch und vor allem sah und sieht sich auch heute wieder China als Zentrum der zivilisierten Welt.

Die neu-alte Weltmacht

Wenn wir also das «neue», machtvolle China betrachten, so sprechen wir stets von der neu-alten Weltmacht. Damit tragen wir auch zu der für Chinesen so wichtigen korrekten Sicht der neueren chinesischen Geschichte bei. Dass China im 19. und im 20. Jahrhundert so schwer und häufig unten durch musste, dass es durch selbst- und fremdverschuldete Katastrophen noch und noch erniedrigt wurde, war nicht die Norm der chinesischen Geschichte, sondern eine Aberration.

Eine weitere Besonderheit ist die staatliche und kulturelle Kontinuität Chinas. Beim Aufstieg und Fall von Reichen bemerken wir die Finalität des Zerfalls. Das Römische Reich ist nach mehreren Jahrhunderten Dauer völlig von der Weltkarte verschwunden. Das gleiche Schicksal hat zahllose andere Imperien ereilt, von Österreich-Ungarn bis zum Ottomanischen Reich. Auch das britische Empire ist auf ein paar rosa Tupfer auf der Weltkarte zusammengeschrumpft. In allen Fällen hat es nie eine Wiedergeburt des Weltmachstatus gegeben. Das Versinken in der Marginalität, ja das gänzliche Verschwinden war das endgültige Schicksal.

Kontinuität contra Zerfall

Demgegenüber hat aber die staatliche und kulturelle Identität Chinas über Jahrtausende hinweg ihren eigenständigen Charakter bewahrt. Das China, das sich heute der Welt stellt, hat ein ähnliches Selbstverständnis, wie das China, das von Kaiser Qin Shi Huang, dem ersten Kaiser der Qin Dynastie, im dritten vorchristlichen Jahrhundert geprägt worden ist. Auch in der Langlebigkeit des Konfuzianismus, dem urchinesischen Verständnis von Familie, Staat und Gemeinschaft, manifestiert sich diese ausserordentliche Langlebigkeit. Zu dieser sollte auch beitragen, dass das chinesische Reich seit Urzeiten sich in seiner ethnischen Identität durch die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung der Han-Gemeinschaft angehörend sieht.

Grabmal mit der grossen Terrakotta Armee.

Qin Shi Huang Di“ – der erste Kaiser Chinas, wurde im Alter von 13 Jahren (246 v.Chr.) zum König des Staates Qin gemacht. 221 v. Chr. eroberte er sechs Nachbarländer und vereinte China zum ersten Mal in der Geschichte.

Errungenschaften des Kaisers Qin Shi Huang Di sind die Vereinheitlichung der chinesischen Schrift und die Standardisierung des Währungs- und Messsystems. Er sorgte er für landwirtschaftliche Reformen und begann den Bau einer Verteidigungsfestung entlang der nördlichen Grenze, der ersten Großen Mauer.

Wollen wir richtig verstehen, wie sich China als führende Weltmacht in der Staatengemeinschaft positioniert, so ist die Kenntnis der chinesischen Geschichte unerlässlich.

Aus dieser Kenntnis gewinnt man die Einsicht, dass in seinem Kern das chinesische Staatswesen nicht eine moderne auf dem Marxismus und dem kommunistischen Totalitarismus beruhende Macht ist, sondern die aktuelle Fortführung eines uralten Reichsgedankens bedeutet.

Während des Kalten Kriegs mit seiner ideologischen Polarisierung mag es Gewohnheit gewesen sein, China zum Lager der kommunistischen Staaten zu zählen. Heute fehlt auch im Falle Chinas eine glaubwürdige Einordnung unter diesen Auspizien.

2012/13 erfolgte der vierte Generationen-Wechsel in der Geschichte der am 1. Oktober 1949 von Mao Zedong auf Beijings Platz des Himmlischen Friedens ausgerufenen Volksrepublik. Der 1953 geborene Xi Jinping übernahm die Führung der Partei als Generalsekretär der KPC, er wurde von der Nationalen Volksversammlung zum Präsidenten der Volksrepublik China gewählt und er übernahm qua Parteichef das mächtige Amt des Vorsitzenden der Zentralen Militärkommission.

In der Folge akkumulierte der im nächsten Jahr zu seiner dritten Amtsperiode antretende Xi Jinping so viel Macht und so viele Chargen in Partei und Staat wie kein anderer Parteiführer seit Mao Zedong.

Ein selbstbewusster chinesischer Nationalismus.

Während der grosse chinesische Reformer Deng Xiaoping als Vater des seit den späten 1970er Jahren Gestalt annehmenden neuen China auf Pragmatismus setzte, hat Xi Jinping in den letzten Jahren ganz eindeutig auf die Karte eines selbstbewussten chinesischen Nationalismus gesetzt.

Anders als Europa hat China nicht das Konzept des Gottesgnadentums gekannt. In seinem Staatsverständnis gibt es das sogenannte «Mandat des Himmels».

Das sog. «Mandat des Himmels» kann, im Gegensatz zum Gottes-Gnadentum, verwirkt werden.

Die Obrigkeit, der Kaiser haben vom Himmel den Auftrag erhalten, über das Volk, das Land zu regieren, und die Untertanen haben die Pflicht, gehorsam zu sein. Im Unterschied zum Gottesgnadentum kann allerdings das Mandat des Himmels verwirkt werden. Sofern die Obrigkeit nicht dafür sorgt, dass es den Menschen gut geht, dass die Grenzen sicher sind und dass das Land stark und wohlhabend ist, verwirkt sie ihr Mandat des Himmels und kann auch gewaltsam beseitigt werden.

Dies ist der Hintergrund der Tatsache, dass sich im Verlauf der lange Geschichte Chinas zahlreiche Dynastien abgelöst haben. Einzelne Dynastien dauerten über Jahrhunderte, andere zählten ihre Existenz in Jahrzehnten. Mit der Machtübernahme der Kommunisten hat die jüngste Dynastie, die Dynastie der KPC begonnen. Im laufenden Jahr wird es hundert Jahre sein, dass die KPC gegründet worden ist.

2049 werden es einhundert Jahre sein, dass die Dynastie der KPC an der Macht ist.

Bereits heute erwähnt Xi dieses memorable Datum als Zielvorgabe für den Aufstieg Chinas zur voll entwickelten, modernen Industriemacht. 

In den Augen vieler Chinesen verfügt die Kommunistische Partei über ein Mandat des Himmels. Das Mandat des Himmels unterscheidet sich wesentlich vom europäischen Begriff Gottesgnadentum, der auch unkluge Herrschaft legitimierte, anstatt sie zu stürzen. Umgekehrt wurde ein erfolgreicher Umsturz als Beweis für das Ende des Mandats angesehen.

In den Augen vieler Chinesen verfügt die Kommunistische Partei über ein Mandat des Himmels. Das Mandat des Himmels unterscheidet sich wesentlich vom europäischen Begriff Gottesgnadentum, der auch unkluge Herrschaft legitimierte, anstatt sie zu stürzen. Umgekehrt wurde ein erfolgreicher Umsturz als Beweis für das Ende des Mandats angesehen.

Welches ist nun das Mandat der heutigen Führung Chinas?

  1. Sie hat dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft auch weiterhin stark wächst und der Wohlstand der Nation sich mehrt.
  2. Sie hat aber auch dafür zu sorgen, dass die Volksrepublik China in der Welt geachtet wird.

Im Umgang mit China ist es deshalb wichtig, dass die Welt die wichtige Rolle des Gebens und Wahrens von Gesicht in der chinesischen Kultur respektiert. 

Xi Jinping mag der mächtigste chinesische Führer seit Mao Zedong sein. Auch er kann es sich aber unter keinen Umständen leisten, dass China in der internationalen Arena als schwach und verletzlich erscheint. Wie dies im Umgang mit der Welt zu Buche schlägt, wird in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in Asien und darüber hinaus über Krieg und Frieden bestimmen.