Geld polarisiert

Geld - was ist es denn?
Wir denken an Geld: beim Zahlen für den täglichen Konsum, bei den Rechnungen zum Monatsende. Auch längerfristig ist es ein Dauerthema: Wie schütze ich mich gegen die Preissteigerung? Kann ich Verluste beim nächsten Börsencrash vermeiden? Gibt es eine Rezession? Natürlich argumentieren wir immer aus der eigenen Sicht. So geht es auch all meinen Freunden und Bekannten. Und trotzdem wissen wir nicht, was Geld ist.
Wir denken viel an Geld, aber kaum über Geld nach.
Michael Sanders ist Harvard-Professor und weltbekannter Referent. Sein Referat bei der TED-Konferenz ist millionenfach aufgerufen worden. Er macht sich Gedanken über die Polarisierung der Gesellschaft:
Welche Rolle sollten Geld und Märkte in unseren Gesellschaften spielen? … Über die letzten drei Jahrzehnte haben wir eine stille Revolution durchlebt. Wir haben uns, fast ohne es bemerkt zu haben, von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft bewegt.
Der Unterschied ist folgender: Eine Marktwirtschaft ist ein Werkzeug, ein nützliches und effektives Werkzeug, um produktive Aktivität zu organisieren, aber eine Marktgesellschaft ist ein Ort, an dem fast alles zum Verkauf steht. Es ist eine Lebenshaltung, in der Marktdenken und Marktwerte anfangen, jeden Aspekt des Lebens zu dominieren: persönliche Beziehungen, Familienleben, Gesundheit, Bildung, Politik, Recht, öffentliches Leben. Und so verstärkt die Vermarktung von allem den Stachel der Ungleichheit ...
Das ist ein Grund, sich Sorgen zu machen … Demokratie braucht keine perfekte Gleichheit, aber sie braucht Bürger, die ein gemeinsames Leben teilen … Die Frage der Märkte ist nicht hauptsächlich eine wirtschaftliche Frage. Es ist eine Frage, wie wir zusammenleben wollen. Wollen wir eine Gesellschaft, in der alles zum Verkauf steht …?
Es lohnt sich, den 14-minütigen Vortrag anzuhören. Es erstaunt mich, dass Sanders mit keinem Wort erklärt, wie wir von einer Marktwirtschaft zu einer Marktgesellschaft gekommen sind. Es ist einfach eine Tatsache. Er erwähnt mit keiner Silbe, dass die Polarisierung die unabdingbare Konsequenz der Marktgesellschaft ist, dass die Ungleichheit auf bestimmten Eigenschaften der Geldsystematik beruht. Weshalb?
Wirtschaft und Gesellschaft werden weiter polarisiert, bis wir über Geld sprechen, so lautet meine These.
Die Schweizer Nationalbank hat’s versucht
Auch viele andere haben sich ähnliche Gedanken gemacht, zum Beispiel die Schweizerische Nationalbank. In den 1950er-Jahren beauftragte sie den Grafiker Pierre Gauchat mit einer neuen Banknoten-Serie. Thema: Was ist Geld? Die Bevölkerung sollte beim Gebrauch der Noten daran erinnert werden, was Geld ist. Gauchat entwarf vier Banknoten: die 50er-Note, 100er-Note, 500er-Note und die 1000er-Note. Die Bevölkerung benutzte vor allem die 50er-Note. Auf ihr zeigt Gauchat die vorherrschende Vorstellung über Geld. Dargestellt wird ein Apfelbaum im Sinne: Geld wächst auf den Bäumen, man pflückt es wie Äpfel und legt es für den Unterhalt der Familie auf die Seite. Die symbolische Kraft der drei weiteren Banknoten verstand die Bevölkerung nicht.
Die Frage, die wir durchdenken müssten, lautet deshalb: Weshalb können wir nicht über Geld sprechen? Gauchats 50er-Note Geld ist ein grosses und wichtiges Thema, aber sobald es darum geht, was Geld ist, versiegt das Interesse. Früher dachte ich, das Thema sei zu abstrakt. Aber der Verdrängungsmechanismus ist ein anderer: Das Thema berührt unser Selbstbild, mit dem wir uns so stark identifizieren. Die Frage verunsichert. Denn wenn wir beginnen über Geld nachzudenken, stossen wir früher oder später auf die Frage, wie es wirkt.
Das Volk ahnte mehr
Es gibt zu Beginn der Neuzeit, im 16. Jahrhundert, mehrere Volksbücher, die so genannt werden, weil sie vom ganzen Volk gelesen werden, der Autor hingegen unbekannt ist. «Die Tragödie des Doktor Faustus» spricht vom Weltuntergang, «Fortunatus» beschäftigt sich mit dem neuen Geld. Beide spiegeln die Umwälzungen jener Zeit.
In «Fortunatus», erstmals 1509 gedruckt, zeigt sich die Notwendigkeit, sich eine Identität zuzulegen, wenn es ums Geld geht. Heute hinterfragen wir dies nicht mehr, vor 500 Jahren war es aber neu. Die Geschichte fängt mit dem Vater des Fortunatus an, der aus der feudalen Gesellschaft rausfällt, weil er nicht mehr genügend verdient, um seinen hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Dies symbolisiert den Zerfall der Feudalordnung. Sein Sohn Fortunatus wird in die Emigration gezwungen und versucht dort, wieder zu Wohlstand zu kommen. Es gelingt nicht. In tiefer Verzweiflung trifft er schliesslich Göttin Fortuna, die ihm die Wahl gibt zwischen: a) langes Leben, b) Weisheit oder c) ein Säckel mit nie versiegenden Münzen. Fortunatus entscheidet sich für das Letztere. Er fühlt sich mit seinem Geld sofort allmächtig (einGefühl, das auch für den erfolgreichen Spekulanten und für den Lottokönig typisch ist) und übersieht dabei die vorherrschenden gesellschaftlichen Zwänge. Als er den Grafen für drei kostbare Pferde überbietet, lässt dieser ihn ins Gefängnis werfen – denn Rechtshoheit übt der Graf aus. Das kostet ihn fast das Leben.
Seine Lehre: Naivität in Gelddingen führt in den Ruin. Ihm wird klar, dass er fortan sein Leben auf einer Lüge aufbauen muss, denn er darf das Geheimnis des «nie versiegenden Säckels» niemandem anvertrauen, nicht mal in Zukunft seiner Ehefrau. Er legt sich behutsam eine Identität zu, indem er sich einen Knecht und zwei Pferde anschafft. Auch als er später in seine Heimatstadt zurückkehrt und sich einen Palast baut, muss er sich die Identität eines Adligen konstruieren. Denn Bargeld allein hätte den Argwohn der Gesellschaft geweckt. So erwirbt er Hof und Gut eines verarmten Grafen und verfügt damit auch über Leute, so wie es sich für Adlige gehört.
Einführung zu Eske Bockelmanns Video “Geld und Beziehung“:
Für uns ist es normal, dass wir eine Ich-Identität haben. Ich bin der Bezugspunkt für meine Entscheidungen. Aber für die längste Zeit der Geschichte kannten die Menschen kein solches Ich. Es ist ein Phänomen der Neuzeit. Das moderne Geld macht jeden Einzelnen zu seinem individuellen Bezugspunkt, weil jeder Einzelne als Geldbesitzer agiert. Jeder Einzelne hat Geld als Eigentum und muss es besitzen, um zu überleben. Jeder Einzelne hat deshalb einen starken Bezug zum Geld, das er zur Verfügung hat. Gleichzeitig ist es dieser individuelle Bezug auf Geld, der den Einzelnen an alle anderen Menschen bindet: denn nur von ihnen kann er Geld bekommen, und nur von ihnen kann er etwas für sein Geld erhalten. Dieses Gegenüber von Einzelnen und abstrakter Gesamtheit ist das Ergebnis einer geldvermittelten Gesellschaft. Der Inbegriff dieser Vereinzelung, das Ich, ist jedem aber auch etwas fremd: Es tritt zu dem, was jeder nun einmal ist, abstrakt hinzu. Und dieses Ich ist dadurch gekennzeichnet, dass es immer erst gefunden werden muss. Es wird zu einem immerwährenden, uneinholbaren Projekt. Das Ich im sozialen Kontext des Marktes, auf dem wir uns behaupten müssen, erheben wir zum Ideal und nennen es unsere Identität. Das folgende kurze Video erklärt dies nochmals.

Volksbuch Fortunatus, erstmals gedruckt 1509. Göttin Fortuna übergibt ihm ein Säckel voller Münzen, deshalb sein Name Fortunatus.
(Video: Geld und Individuum, 5 Min.)
Wie wirkt Geld in uns?
Wie diese Geldverbindungen Individuum und Gesellschaft beeinflussen und formen, ist uns meist nicht bewusst. Es mag sich lohnen, die Welt um 1850 zu erforschen, am Anfang der Industrie-Revolution, als sich Geld und Handel rasch ausbreiteten. Mit dem geschichtlichen Abstand fällt es uns leichter, die Wirkung von Geld zu erkennen. In den Tagebüchern des Genfer Philosophen Henri-Frédéric Amiel (1821–1881) finden wir verblüffende Gedanken wie: «Die bürgerliche Gesellschaft, die sich auf das Geld gründet, geht durch das Geld unter, wenn das Symbol die Sache selbst ersetzt.» Das schreibt Amiel 1851. Es ist die Zeit der grossen Romane von Victor Hugo und Honoré de Balzac. Der Historiker Hans Peter Treichler hat Amiels umfangreiche Tagebücher gesichtet und berichtet, wie Geld einen entscheidenden Einfluss nimmt bei Heirat, standesgemässem Leben und dem Zeitempfinden. Amiel spricht von «latyrannie de l’écu». Von ihm stammen die noch heute gebräuchlichen Zitate wie «Man ist so alt, wie man sich fühlt» oder «Nichts ist so erfolgreich wie der Erfolg».
Treichler beschreibt, was «standesgemäss leben» damals hiess und weshalb die Mitgift der Frau zum Instrumentarium der bürgerlichen Eheanbahnung gehörte. Beschrieben wird auch der Alltag der Arbeiterfamilie in Zahlen. Ein dauerndes Rechnen, wobei die dünne Mittelschicht ebenso geplagt war vom Geldmangel wie die Arbeiterklasse.
Amiels Zeit ist eine des grossen Umbruchs. Bis zur Gründung der Schweiz 1848 lag die Münzhoheit bei den Kantonen; die meisten von ihnen prägten ihre eigenen Münzen. Mit ihrem Münzsystem erstickte die föderalistische Eidgenossenschaft jeden Impuls, Geschäfte über die Kantonsgrenze hinaus zu betreiben – genauso wie die Zollschranken, die sich an jedem dieser Übergänge fanden. Die Uhren wurden noch nach dem Sonnenstand gerichtet, so variierte die Zeit zwischen Zürich und Bern um 5 Minuten. Erst Telegraf und Bahnverkehr forcierten hier eine Vereinheitlichung. Amiel ist zwar Intellektueller, aber er tut sich schwer mit den Neuerungen. «Man könnte meinen, ich sei ein Adliger des Ancien Régime, so sehr missfällt mir das bürgerliche Krämertum, so widerlich ist mir dieses Jonglieren mit Zinsen, Konti, Wechseln und so weiter.» Oder: «Ich fühle tiefes Mitleid mit dieser Art von Greisen, diesen kinderlosen Millionären, die mit einem Fuss im Grab stehen und immer noch jeden Tag damit zubringen, Geld zu scheffeln, Vergleiche zu kalkulieren, Gewinne herauszuschinden.»
Amiels Zweifel aber ermöglichen uns, den Umschwung in der damaligen Zeit mitzuverfolgen, die Wirkung und Wichtigkeit von Geld und Besitztum in der Gesellschaft zu verstehen. Und so formt das Geld die Gesellschaft. Bei einer geldvermittelten Gesellschaft handelt es sich nicht mehr um eine Gemeinschaft ihrer Mitglieder. Die geldvermittelte Gesellschaft stiftet den Zusammenhang zwischen ihren Mitgliedern durch eine abstrakte Abhängigkeit voneinander, die aber reale Auswirkungen auf unser Leben hat: die Abhängigkeit vom Geld. Das Leben eines jeden hängt davon ab, dass er zu Geld kommt, dass er für sich etwas tut oder produziert, wofür andere ihm Geld geben. Dieser Zusammenhang führt auch zu Konflikten unter den Menschen. Und da all die Vereinzelten in Konkurrenz mit den anderen geraten, gibt es so viele Anwälte für die Konflikte. Im Kern geht es um das Prinzip der Ausschliessung. Das Geld beruht darauf, dass mit ihm etwas zu kaufen ist, was nur der bekommt, der es kauft. Alle anderen sind von dem ausgeschlossen, was gekauft werden soll. Sie sind davon ausgeschlossen, damit es einzig und allein gegen Geld an den geht, der das Geld dafür aufbringt.

Hans Peter Treichler: Die Tyrannei des Geldes. Henri-Frédéric Amiel über Besitz und Bürgertum. 2012. 163 Seiten.
Dazu ein weiteres kurzes Video (Geld und Gesellschaft).

Berthold Brechts Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft im Jahre 1930 liest sich wie eine Vorausahnung der Polarisierung von heute. Wie in Goethes «Faust II» mit dem Verbot des Verweilens gibt es auch hier ein Verbot, das sich durch das ganze Werk hindurchzieht. Die Handlung spielt in Mahagonny, einer fiktiven Stadt in Nordamerika. Das Gesetz ist das der menschlichen Glückseligkeit: «Du darfst!» Das Einzige, das verboten ist: kein Geld zu haben – darauf steht die Todesstrafe. Hauptdarsteller Paul gibt sämtlichen Männern Mahagonnys einen Whisky aus, doch als er bezahlen will, fällt ihm ein, dass er kein Geld mehr hat. Paul wird zum Gericht geschleppt, das gerade einen Mord bespricht. Der eines Mordes Angeklagte besticht das Gericht und wird freigesprochen. Paul jedoch wird des grössten Verbrechens («Mangel an Geld») schuldig gesprochen und gehängt. Die Oper endet damit, dass die Stadt im Chaos versinkt. Bei der Uraufführung in Leipzig 1930 kam es zum Tumult.
Mahagonny ist nach Kurt Weill die Geschichte von Sodom und Gomorra. Die zwei Städte sind Gegenstand einer Erzählung in der Bibel, der zufolge sie durch Gott unter einem Regen aus Feuer und Schwefel begraben wurden, weil sie der Sünde anheimgefallen waren. In einer geldvermittelten Gesellschaft ist tatsächlich das Schlimmste, kein Geld zu haben. Das führt zu Konflikten und muss unter allen Umständen verhindert werden.
Bertold Brecht, Mahagonny, Oper in drei Akten. Musik von Kurt Weill, 1930.
Das gilt auch für Wirtschaft und Gesellschaft. Die drei grossen globalen Wirtschaftsblöcke USA, Europa und China driften auseinander, weil sich jeder Block einen wirtschaftlichen Vorteil beschaffen will. Diese Polarisierung ist aber genau das Gegenteil dessen, worauf die Menschen hoffen. Der jährlich durchgeführte Hoffnungsbarometer zeigt, dass die grosse Mehrheit der Bevölkerung nicht auf mehr Geld, sondern auf harmonische Beziehung und echte Partnerschaft hofft. Das ist genau das Gegenteil der heutigen Polarisierung.
Geld polarisiert … Liebe eint - wie weiter?
Eine Gesellschaftskultur braucht für deren Zusammenhalt eine Kraft, die vereint. In einer Geldgesellschaft ist dies die Verpflichtung auf Trennung, indem nur jener kaufen kann, der Geld zahlt. Nur: Geld verbindet, indem es trennt. Dagegen war das verbindende Prinzip im Mittelalter das Prinzip der Liebe, eine der drei mittelalterlichen Kardinaltugenden. Es erfordert das Fallenlassen von Vorurteilen, das Annehmen des Andern, wie es ist. Liebe ist eine Energiestruktur, die versucht, Unterschiedlichkeiten aufzuheben. Aber sie versucht es nicht dadurch, dass sie das Andere auslöscht und gleichmacht, sondern indem sie versucht, das Andere als das zu lassen, was es ist, und es in eine Einheit zu integrieren.
Wir brauchen eine Wirtschaftsordnung, an der die gesamte Bevölkerung partizipieren kann. Am besten wird dies durch eine Lockerung des staatlichen Geldmonopols erreicht, um den wirtschaftlichen Akteuren mehr Spielraum zu geben. Hier kann die Blockchain-Technologie beitragen.

Ich habe drei Gebiete dargelegt:
- Bewusst über Geld sprechen – das Thema war noch nie dringender: Zerstörte Umwelt, Spaltung der Gesellschaft, Schulden ohne Ende, das Hamsterrad. Viele spüren das drohende Ungleichgewicht. Die meisten sprechen aber nicht gern über Geld, weil ihr Selbstbild in unserer Gesellschaft so stark davon abhängt. Meine These ist, dass sich Wirtschaft und Gesellschaft weiter polarisieren, bis Medien und Bevölkerung darüber sprechen.
- Wir analysierten den Einfluss des Geldes auf das Individuum und die Gesellschaft. Als Illustration diente uns das Volksbuch «Fortunatus» und die Erfahrungen Amiels während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Sie alle zeigen den Zwang und die formative Kraft des Geldes.
- Wir haben den TED-Talk von Michael Sanders angeschaut. Ich frage jetzt die Leserinnen und Leser, ob sie es für möglich halten, von der Marktgesellschaft zurück zur Marktwirtschaft zu finden, so wie es Michael Sanders suggeriert? Was würde es dazu brauchen?
Bei dieser letzten Frage spaltet sich die Leserschaft in zwei Lager und ich frage Exponenten beider Lager, ihre Position zu erläutern.
Meine Position fasse ich kurz zusammen: Wir sind gefordert. Eines Tages werden wir aufwachen und die Welt hat sich über Nacht geändert.
Ein Naturereignis, ein Unfall, etwas Unvorhergesehenes. Die Zeitungen sind voll mit den neusten Nachrichten, stiften mehr Verwirrung als klare Statements. Wenn sich die Bevölkerung bis dahin keine Gedanken zur Lösung der Ungleichgewichte gemacht hat, wird Chaos und Krankheit vorherrschen.
Ich plädiere für einen bewussten Umgang mit Geld, für Forschungsarbeiten über Geld.

Oh, was ist passiert?
Oh, was ist passiert?