Chinas Gesellschaft
zwischen persönlichen Freiräumen und staatlicher Kontrolle

Solche oder ähnliche Sätze skizzieren das Freiheitsgefühl von Chines:innen im Jahr 2021:
„Die Atmosphäre wird zunehmend wieder so angespannt wie in der Kulturrevolution“, „Ich fühle mich kein bisschen überwacht oder unterdrückt, wie das bei Euch in Medien oft beschrieben wird“ und schließlich „Chinas Gesellschaft ist so frei wie nie zuvor in der Geschichte der Volksrepublik“ – letzterer Satz ist für viele Chines:innen eine verinnerlichte Code, nicht direkt eine Meinung über die Gegenwart zu äußern bzw. äußern zu müssen.
Alle diese Sätze beschreiben einen Teil der Realität in der Volksrepublik. Mit Beginn der Reform- und Öffnungsperiode 1978 verringerte die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) das Ausmaß ihrer Kontrolle über das Gesellschafts- und Privatleben der Bevölkerung. Sie öffnete Kanäle für den internationalen Austausch von Waren und Ideen, um die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben. Lebensformen, Konsumgewohnheiten und Wertvorstellungen sind in den darauffolgenden drei Jahrzehnten pluralistischer geworden. Neue Technologien und soziale Medien ermöglichen neue Formen der Information, Kommunikation und der Meinungsbildung.
Doch seit dem Antritt von Partei- und Staatschef Xi Jinping hat die KPC-Führung nicht wenige dieser Freiheiten wieder eingeschränkt. Zu groß war und ist die Sorge, dass die eigenen Kader – ähnlich wie in der ehemaligen Sowjetunion – innerlich und irgendwann auch äußerlich kündigen, wenn sie ihre Vermögen und Familien in Sicherheit wissen. Zu groß auch die Befürchtung, dass der Pluralismus an Meinungen und Deutungen in den sozialen Medien oder auch an den Universitäten den eigenen Bürgern doch zu viel „westliche Flausen“ nach Mitbestimmung und Transparenz in den Kopf setzt. Deshalb setzt Parteichef Xi unter dem Primat der Sicherheit, den er teils erfolgreich als „Stabilität“ an das eigene Volk kommuniziert, auf alte und neue Formen der Kontrolle. Dazu zählen rigiden Zensurmaßnahmen, ideologische Mobilisierung an Universitäten und Schulen sowie ein zunehmend allgegenwärtigeren digitales Überwachungssystem mit Hilfe von Kameras im öffentlichen Raum oder auch Auslesung von Handydaten – insbesondere im Zuge der Pandemie Covid-19 vorangetrieben.
Freiheit heißt für viele deshalb umso mehr den Konsum in das Zentrum der Identitätsfindung und Selbstverwirklichung zu stellen: „ich kaufe, also bin ich.“ Am schnellsten wächst der Konsum in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Dienstleistungen, zum Beispiel für Haushaltshilfen. Am sogenannten chinesischen Black-Friday, dem Singles Day, am 11.11. machen Unternehmen wie Alibaba durch lukrative Rabatt-Angeboten und spielerisch aufbereitete Werbung rund 75 Milliarden US-Dollar Umsatz. Der Konsum ist Ausdruck eines neuen Wohlstands für nicht wenige.
In der Mitte der chinesischen Gesellschaft finden sich Menschen aus sehr unterschiedlichen Berufsgruppen: Manager von staatlichen Betrieben, Architekten, Rechtsanwälte oder auch IT-Unternehmer. Sie alle sind relativ gut gebildet, haben ein stabiles Einkommen und können etwas Geld auf die hohe Kante legen. Auf Basis solcher Kriterien gehören rund 400 bis 600 Millionen Menschen zu dieser „Mittelschicht“.

Rigide Zensurmaßnahmen, ideologische Mobilisierung an Universitäten und Schulen sowie ein digitales Überwachungssystem im öffentlichen Raum.
Rigide Zensurmaßnahmen, ideologische Mobilisierung an Universitäten und Schulen sowie ein digitales Überwachungssystem im öffentlichen Raum.

Konsum als Identitätsfindung und Selbstverwirklichung?
Konsum als Identitätsfindung und Selbstverwirklichung?


Das Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land sowie den Küsten- und Binnenregionen ist jedoch weiterhin enorm. Erstmals hat sich diese Schere 2016 wieder verschärft. Sowohl die Überalterung als auch der Männer-Überschuss belasten die soziale Entwicklung. Lebenswelten weisen große Unterschiede auf: Kosmopolitische chinesische Start-up-Unternehmer fühlen sich ihren Pendants in den USA näher als chinesischen Angestellten eines Staatsunternehmens.
Partei-und Staatschef Xi Jinping hat sich zum Ziel gesetzt, manche dieser Ungleichheiten zu beseitigen. Wie geplant, konnte er Anfang 2021 verkünden, dass nun keine Menschen mehr in absoluter Armut leben – allerdings nur nach der absoluten Untergrenze von rund 1,90 US-Dollar pro Tag der Weltbank. Nach ihrer Definition für Länder mit mittleren Einkommen (rund 5 US-Dollar pro Tag), zu denen China gehört, leben noch immer rund 370 Millionen Chinesen unter der Armutsgrenze.
Konzentration auf Konsum und die Mehrung des eigenen Wohlstands soll aus Sicht der KP-Führung die Bevölkerung von Forderungen nach politischer Teilhabe abhalten. In den konkreten Lebenswelten der urbanen Mittelschicht sind diese beiden Bereiche jedoch miteinander verbunden: Die als Sicherheits- und Statusbesitz so wichtige Eigentumswohnung hat bei Wohnungsbesitzern zu wachsenden Ansprüchen gegenüber Immobilienentwicklern und der Hausverwaltung geführt. Ein so entstehendes politisches Engagement ist eng mit den eigenen materiellen Interessen verbunden.
Zudem greift die KPC im Namen der sozialen Stabilität und öffentlichen Moral zunehmend auch in kommerzielle Freiheiten ein. Die Liste der Themen, die chinesische Online-Medien nicht aufgreifen dürfen, wird immer länger: Neben Themen wie Pornographie und Gewalt muss nun jeder audiovisuell im Internet verbreitete Inhalt mit „sozialistischen Kernwerten“ in Einklang stehen. Tabu sind künftig wieder mehr Inhalte wie Homosexualität und „provokative Küsse“ sowie Drogensucht oder die „Diffamierung von Nationalhelden“. Durch die angekündigten Beschränkungen der sogenannten Virtual Private Networks (VPNs) fällt vor allem für Privatpersonen zudem die Möglichkeit weg, anonym und unbeobachtet im Internet zu surfen. Die Begründung der Regierung, durch diese Maßnahmen „soziale Sicherheit“ zu wahren, z.B. Internetnutzer vor Betrügern oder Gerüchten zu schützen, stößt allerdings auch auf Zustimmung und Verständnis.
Wie sich die chinesische Gesellschaft auch in ihrem Verhältnis zur chinesischen Regierung entwickelt, hängt von drei Dynamiken ab:
- Die Faszination der Technik
- Die Dynamik des Konsumismus
- Die Konstitution der chinesischen Gesellschaft
Die Faszination der Technik:
einfache Bequemlichkeit oder kritischer Umgang?

China ist eine digitale Pioniergesellschaft. Immer mehr Chinesen leben vor allem digital. Kaum ein Bereich, der nicht durchdrungen ist von Online-Diensten und entsprechenden Apps.
Sie nutzen dabei vor allem die heimischen Ökosysteme, was einen gewissen Abkapselungseffekt von anderen Meinungen im eigenen Land und von der internationalen Internetnutzer (Netizen)-Gemeinschaft befördern kann. Sie liefern so auch fleißig Daten vor allem an den chinesischen Staat. Werden sich substantielle Teile der Bevölkerung darauf einlassen, oder werden soziale Gruppen von den Bemühungen Pekings abweichende Interesse verfolgen? Beispiel: stärkerer Schutz von Privatdaten vis-à-vis dem Staat.
Die Dynamik des Konsumismus:
zerstörerischer Sog oder ausbalancierte Kraft?
Die von Deng Xiaoping in den 1980er Jahren ausgegebene Leitlinie „Einige sollen zuerst reich werden“ hat gewaltige Wohlstandsgewinne ermöglicht, aber zugleich eine rasante und extreme Kommerzialisierung der chinesischen Gesellschaft in Gang gesetzt.
Konsumismus ist zu einer in der Gesellschaft vorherrschenden Werteorientierung geworden.
Es bleibt abzuwarten, auf welche Weise spirituell-religiöse Werte, neu entdeckte Traditionen und das karitative Engagement in der chinesischen Gesellschaft einen Lebenssinn und moralische Maßstäbe jenseits des eigenen materiellen Wohlergehens stiften können. Zudem ist auch spannend zu beobachten, ab wann die zunehmenden Zensureingriffe der chinesischen Regierung in den Unterhaltungsbereich größere Proteste von Prominenten und ihren Fans auslösen.

Die Konstitution der chinesischen Gesellschaft:
Reflektiertes Gemeinwesen oder irrationale Masse?
Wachsendes Bürgerengagement, öffentliche Debatten, virtuelle Kampagnen und gut überlegte Protestorganisation zeigen das Bemühen vieler Chinesen, den Interessenspluralismus konstruktiv auszutragen. Neu sind seit 2016 Online-Kampagnen und auch Proteste für die Rechte von Frauen und LQBTQ.
Dennoch kommt es auch immer wieder zu sehr irrationalen, hysterischen Verhaltensweisen, wie gewalttätigen Attacken auf Ärzte, Massenkaufrausch zum durch E-Commerce-Anbieter beworbenen Single’s Day oder fremdenfeindlichen Attacken gegen Japaner, Koreaner oder auch US-Amerikaner. Wichtig bleibt zu beobachten, inwieweit insbesondere Chinas Jugend anfällig ist für eine von der chinesischen Regierung immer wieder latent geschürte anti-westliche Stimmung oder gar einen radikalen Nationalismus.
Text von Kristin Shi-Kupfer, Professorin für Sinologie an der Universität Trier und Senior Associate Fellow am MERICS. Sie ist Expertin für Chinas digitale Politik, Medienpolitik, Zivilgesellschaft und Menschenrechte.
Dieser Text ist in Teilen erschienen in Kerwer, Jürgen; Röming, Angelika (2018). Die Volksrepublik China - Partner und Rivale (forum hlz). Hessische Landeszentrale für politische Bildung