China an seinen Grenzen

Pekings Beziehungen mit seinen Nachbarn und Minderheiten

Im Grunde genommen könnte einem China leidtun: Peking hat in der Welt – abgesehen von einigen Ländern mit zweifelhaftem Ruf wie etwa Sudan, Syrien oder Weissrussland – keine wahren Freunde. Ob sich diese Tatsache in absehbarer Zukunft verändern wird, ist angesichts von Chinas weltpolitischen Ambitionen eher unwahrscheinlich. In vielen Staaten werden sie nämlich mit Befremden oder sogar Unmut verfolgt.    

Selbst wenn man den Radius verkleinert und den Blick lediglich auf Asien beziehungsweise Chinas Nachbarländer wirft, dann ändert sich die Einschätzung nicht grundlegend. Und das ist doch eigentlich verwunderlich, denn immerhin hat China auf einer Länge von 22'000 Kilometern zu Lande vierzehn Nachbarn. Hinzu kommen noch einige Anrainerstaaten im Süd- und Ostchinesischen Meer. Theoretisch gesehen sollte es also leichtfallen, Freunde zu finden. Doch ist es wie in einem grossen Haus, in dem mehrere Partien wohnen und keiner mit dem stärksten Nachbarn so recht klarkommt. 

Das hier skizzierte Problem hat hauptsächlich drei Ursachen: Chinas Grösse, seine Geschichte und das politische System des Landes. Alle drei tragen das Potential in sich, zu einer belastenden Hypothek zu werden. Und das zeigt sich an Chinas Grenzen aus natürlichen Gründen zuerst.

RESPEKT VOR GOLIATH

Das Reich der Mitte ist mehr als 230-mal so gross wie die Schweiz. Da ist es nur allzu verständlich, dass Chinas kleinere Nachbarn wie Laos, Myanmar oder Bhutan nicht nur grossen Respekt vor dem Goliath direkt vor ihrer Haustüre haben, sondern sich bei den lokalen Bevölkerungen dieser Nachbarländer immer mehr auch Bedenken und sogar Ängste breitmachen. Ob China auf der internationalen Bühne mit grossem Geschrei (gegenüber Indien anlässlich der jüngsten militärischen Gefechte im Himalaya) oder verlockenden Schalmeienklängen (gegenüber südostasiatischen Ländern im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative) auftritt: Das Vertrauen der meisten Nachbarn in Peking und die geopolitischen Ziele der kommunistischen Staatsmacht hat seine Grenzen. 

Allein durch die Tatsache, dass China zusätzlich das bevölkerungsreichste Land der Erde ist, macht die Sache nicht einfacher. Man kann sich vorstellen, dass selbst grössere Nachbarn wie die Mongolei oder Russland sich gelegentlich fragen, wie die chinesische Parteielite die Versorgung der eigenen Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten garantieren will – oder ob man vielleicht im Notfall doch mit (wenngleich nicht unbedingt territorialen, aber immerhin wirtschaftlichen) Expansionsgelüsten zu rechnen hat. Wenn heute die Volksrepublik China Besitzansprüche auf das Südchinesische Meer anmeldet, die fast ein Viertel der Grösse seines Festlandterritoriums ausmachen, dann wundert man sich nicht, weshalb einige südliche und östliche Nachbarn dieses Ansinnen gelinde gesagt mit Argusaugen verfolgen, oder sogar, wie die Philippinen im Jahre 2016, sich an den ständigen Schiedsgerichtshof in Den Haag wandten.

HISTORISCHE ALTLASTEN

Die Geschichte bietet ein weiteres Konfliktfeld, das immer dann ins Spiel kommt, wenn Peking sich seiner angeblich fünftausendjährigen friedvollen und harmonischen Vergangenheit rühmt und damit der ganzen Welt beweisen will, dass beispielsweise Tibet oder Xinjiang seit eh und je zur grossen «Chinesischen Nation» (Zhonghua minzu) gehört haben. Doch aufgepasst: Wer etwa als Historiker den (durch Chinas Kaiser Qianlong im 18. Jahrhundert angeordneten) Genozid an den mongolischen Dzungaren studieren oder sich kritisch mit der «Befreiung» Tibets durch die Volksbefreiungsarmee 1951 auseinandersetzen möchte, der tut gut daran, seine Studien ausserhalb Chinas durchzuführen. Chinesische Geschichtsschreibung liegt in der absoluten Hoheitsgewalt der Kommunistischen Partei, und da dulden die roten Kaiser unter keinen Umständen irgendwelche Abweichungen oder alternative Sichtweisen. Nicht mal ein kritisches Hinterfragen. 

Verhindern kann jedoch auch das Regime in Peking nicht, dass der Nachbar Indien beispielsweise den Grenzkrieg von 1962 nicht vergessen kann und auch nicht übersehen will, dass China mit Delhis Erzfeind Pakistan einen milliardenschweren Waffen- und Energiehandel treibt. Selbst in Russland, das mit China im Fernen Osten eine 3600 Kilometer lange Grenze aufweist, übersieht man – vor allem auf Regierungsebene – aus wirtschaftlichen Gründen gerne die historischen Altlasten (z.B. den fast drei Jahrzehnte andauernden chinesisch-sowjetischen Konflikt). Diese könnten jedoch, Putins System wird nicht ewig Bestand haben, jederzeit wieder zum Vorschein kommen. Wie urteilte noch 1989 Chinas damaliger starker Mann Deng Xiaoping anlässlich des Besuchs von Gorbatschow in Peking? Russland, und nicht etwa Japan oder die USA, sei Pekings grösster Feind, weil es in seiner Geschichte mehr Territorium von China besetzt habe als jedes andere Land.   

Wer die Opposition in Hong Kong mit allen Mitteln zerstört und gleichzeitig gebetsmühlenartig betont, die Formel «Ein Land, zwei Systeme» sei weiterhin die einzig gültige, nährt berechtigte Zweifel an den wahren Absichten Pekings.

Wer die Opposition in Hong Kong mit allen Mitteln zerstört und gleichzeitig gebetsmühlenartig betont, die Formel «Ein Land, zwei Systeme» sei weiterhin die einzig gültige, nährt berechtigte Zweifel an den wahren Absichten Pekings.

UNBEIRRBARES SYSTEM

Schliesslich ruft auch Chinas politische System mit allem, was dazu gehört, bei vielen Nachbarn ungute Gefühle hervor. Zwar tritt die Machtelite gegen aussen weltoffen und fortschrittlich auf, doch gegen innen regiert sie streng dogmatisch und hält das Szepter in bewährt marxistisch-leninistischer Manier in der Hand. Das ist keine ideale Voraussetzung für Chinas Propagandaleute, das glanzvolle Image einer verantwortungsbewussten Grossmacht aufzubauen. Und so geben unterschiedliche Facetten dieses Systems Chinas Nachbarn immer wieder Anstoss zur Besorgnis: Zu gross ist etwa für viele Nachbarländer (und nicht nur für sie) die Schere zwischen der chinesischen Staatspropaganda und der Wirklichkeit, zwischen Worten und Taten. Wer beispielsweise die Opposition in Hong Kong mit allen Mitteln zerstört und gleichzeitig gebetsmühlenartig betont, die Formel «Ein Land, zwei Systeme» sei weiterhin die einzig gültige, nährt berechtigte Zweifel an den wahren Absichten Pekings. Nicht nur in Taiwan. Und wer in diesen Wochen zur Stabilität in Myanmar aufruft, früher jedoch ohne mit der Wimper zu zucken die Herrschaft der Militärjunta unterstützte, muss sich nicht wundern, wenn Demonstranten in Yangon vor der chinesischen Botschaft gegen den Einfluss Pekings protestieren.   

Es ist vor allem auch Chinas Umgang mit den Minderheiten (die notabene in ihrer grossen Mehrheit an den Rändern des chinesischen Reiches leben), der sich als Klumpfuss für die Machthaber herausstellen könnte: Die Angst, durch noch mehr chinesische Schulbücher ihre kulturelle Identität zu verlieren, treibt nicht nur die Mongolen in der zu China gehörigen inneren Mongolei auf die Strasse, sondern alarmiert verständlicherweise auch die Mongolen jenseits der Grenze in der unabhängigen Republik Mongolei (die während der Qing-Dynastie unter chinesischer Herrschaft stand). 

Die ganze Tragik um das Schicksal der Uiguren wurde in den letzten ein, zwei Jahren endlich auch dem weit entfernten Europa bewusst: Lange davor war das «Problem Xinjiang» allerdings bereits ein Thema in den Beziehungen Chinas zu den muslimischen Nachbarstaaten. Selbst in den an China grenzenden Stan-Ländern Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan zeigte man sich alarmiert über Pekings Umgang mit den Uiguren, der an stalinistische Praktiken erinnert. Nur gerade Chinas loyaler Freund Pakistan übernahm die Sichtweise seines Mentors und tut, als ob es keine Unterdrückung der traditionellen uigurischen Kultur und schon gar keine Umerziehungslager gäbe. Das Neue-Seidenstrasse-Projekt mit seinen wirtschaftlichen Vorteilen soll selbstverständlich ohne grössere Störungen abgewickelt werden.

Cover vom Der Spiegel 1978 - damals!

Cover vom Der Spiegel 1978 - damals!

Auf ewig wird China nicht um eine ehrliche Beschäftigung mit der Geschichte umhinkommen – auch wenn eine Vergangenheitsbewältigung, wie man sie aus Europa kennt, in Asien unwahrscheinlich erscheint. Doch immer dann, wenn Chinas Herrscher mit aller Macht mögliche Konfliktherde in den Grenzgebieten unterdrückt, wird sich die Büchse der Pandora ein bisschen weiter öffnen. Ein momentanes «Glück» für China besteht darin, dass die meisten Nachbarn autoritär regierte Länder mit wenig demokratischem Hintergrund sind, mit anderen Worten für sie Menschenrechte keine grosse Rolle spielen. Vorerst. Doch Zeiten können sich bekanntlich rasch auch wieder ändern. Das Misstrauen der lokalen Bevölkerungen in diesen Nachbarländern steigt, je stärker China seine Muskeln springen lässt – ob im Umgang mit Minderheiten an den Grenzen oder bei zwischenstaatlichen Wirtschaftsabkommen. Diese Sensibilitäten realisieren Chinas Nachbarn deutlich rascher als Länder wie die Schweiz, für die ökonomische Interessen an erster Stelle stehen. Doch eine gesunde Skepsis gegenüber Pekings Absichten würde auch Staaten weit weg von Chinas Landmasse gut anstehen

An den Rändern Chinas entscheidet sich nicht nur die Entwicklung in der Mitte, sondern auch das Schicksal von Pekings Aufstieg zur Weltmacht. Das Reizwort «Gelbe Gefahr» war Ende des 19. Jahrhunderts in aller Munde. Damals war es «nur» ein Gespenst. Doch ob es heutzutage in der Welt als real wahrgenommen wird, hängt ohne Zweifel von Pekings Auftreten auf dem internationalen Parkett ab.

Dr. Matthias Messmer, Publizist und Autor u.a. von «China’s Vanishing Worlds» (MIT Press, 2013) und «China an seinen Grenzen» (Reclam, 2019).